Heinrich Mueller 04 - Gnadenbrot
niemand auf die Idee kommt, es im Supermarkt zu lesen.«
Nicole verwarf die Hände. »Asche im Katzenfutter! Diese Zusammensetzung ist ein Fall für den Versicherungsdetektiv. Das riecht nach Betrug!«
»Ist es nicht«, sagte Heinrich Müller, »auf der Verpackung steht nirgends der Begriff Fleisch, sondern ›Erlesene Streifen mit Gemüse‹.«
»Bewundernswert bleibt«, meinte Leonie, »wie es gelingt, so viel Wasser mit so wenig fester Substanz zu einer stabilen Masse zu formen.«
»Schau dich selbst an«, schloss Nicole das Gespräch, »der menschliche Körper besteht auch aus über 70 Prozent Wasser und fällt nicht auseinander.«
Dann erhob sie sich vom Tisch und räumte das Geschirr weg.
Heinrich Müller hatte sich in den Fernsehsessel im Wohnzimmer zurückgezogen und lagerte das Bein auf einem Regiestuhl hoch. Er war nicht in der Lage viel zum Weltgeschehen beizutragen, außer dass seine Oberschenkel Baron Biber als Liegefläche dienen konnten. Gewiss fühlte er sich trotz seiner 54 Lebensjahre wohl in seiner Haut, wenn man vom Unfall einmal absah. Aber er war nicht mehr der Herzensbrecher seiner frühen Jahre. Manchmal machte es ihm zu schaffen, ein anderes Mal war er froh darüber, wie sich die Dinge änderten.
»Ich muss eine Lebenslüge aufbauen«, sagte er zu seinem Kater, »damit ich interessanter wirke.«
»Was schwebt dir vor?«, fragte Leonie, die unbemerkt hinter ihn getreten war.
Heinrich kam sich ertappt vor. »Irgendetwas halt, wofür einen die Leute bewundern«, sagte er schnippisch.
Nicole war ebenfalls zu den beiden gestoßen und hatte die halb volle Weinflasche und die Gläser mitgebracht. Sie schenkte nach und sagte: »Bevor du dich um eine geschönte Vergangenheit bemühst, sollten wir ein funktionierendes Geschäftsmodell für die Zukunft entwickeln. Es geht uns nämlich langsam das Geld aus.«
»Drucken wir eben neues«, meinte Leonie. »Die Schweizerische Nationalbank macht es ja auch so. Lässt die Maschinen laufen, bis all die faulen Kredite durch echtes Geld gedeckt sind, und irgendwann wird eine Inflation daraus, die alle Vermögen, die bei der Bankenkrise noch nicht vernichtet worden sind, auch noch auffrisst. Dann fangen alle wieder bei null an.«
»Wir machen was mit Engeln«, sagte Nicole Himmel. »Engel-Gläubige gibt es viele, die kommen für das Startkapital auf.«
»Und was tut diese Firma?«, fragte Heinrich.
»Sie untersucht das Bewegungsverhalten von Engeln und macht die Ergebnisse für den Flugzeugbau nutzbar. Mit dem Startkapital können wir ein paar Monate leben.«
»Das ist doch absehbar, dass es nicht funktioniert«, meinte Leonie etwas enttäuscht.
»Danach kannst du immer noch behaupten, die Engel seien gegen solche Untersuchungen gewesen.«
»Ich weiß was Besseres«, sagte Leonie. »Wir entwickeln Kundenanbindungsprogramme per E-Mail. Da steht beispielsweise: ›Sehr geehrter Kunde XY. Sie kaufen regelmäßig höhlengereiften Emmentaler. Dürfen wir Sie auf das neuste Produkt von Moloko [2] aufmerksam machen? Wir glauben, dass es Ihnen schmecken würde.‹«
»Das gibt es bereits«, mäkelte Heinrich. »Das erinnert an die Empfehlungen der Buchverkäufer im Internet.«
»Okay. Dann halt so.« Leonie gab nicht nach. »›Seit Monaten beobachten wir Ihr Konsumverhalten. Im Hinblick auf Ihr Körpergewicht möchten wir Ihnen folgende Änderungen anraten.‹ Du musst bloß ein Produkt anbieten, das gut ist für die Gesundheit oder für die Sicherheit. Dafür zahlen die Leute jeden Preis.«
»Das könnte hinhauen«, ergänzte Nicole. »Vor einigen Jahren wurde chinesischer Pu-Erh-Tee als Schlankmacher angepriesen, was man den Leuten weismachen konnte, weil der halbfermentierte rote Tee derart gerbstoffhaltig und bitter schmeckte. Genützt hat es nur den Verkäufern, die statt fünf Franken pro hundert Gramm das Zehnfache verlangen konnten.«
»Du bewegst dich damit aber in einem Graubereich«, gab Müller zu bedenken, »und gerätst ins Visier von Kriminellen. Wie jener Zürcher Informatiker, der eine Homepage zur Warnung vor unlauteren Absichten im Internet aufgebaut hat. Ich war einer von Zehntausenden, die eines Tages ein Mail gekriegt haben. Darin kündigt der Mann seinen Selbstmord an und dass er seine Freundin, diese Schlampe, und ihren Lover mitnehmen werde. Der Mann musste sich über die Zeitung an die Öffentlichkeit wenden und mitteilen, dass er durchaus noch weiter zu leben gedenkt.«
»Also etwas Neues«, sagte Nicole. »80 Prozent von
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