Heinrich Spoerl
heran.
»Dann mal her mit dem Hauptgewinn«, ruft Fred und greift mutig in den Schicksalskasten. Zieht einen Umschlag. Reißt ihn auf.
Nichts.
»Dann also der nächste!« Er greift abermals. Reißt auf. Nichts.
»Aber jetzt kommt es bestimmt.« Greift. Reißt: Nichts.
Der Mann im Cape zählt murmelnd: Eine Mark – eine Mark fuffzig – zwo Mark –
Hurra, ein Freilos!
Das nächste ist somit gratis.
Von einem Gratislos kann man nicht viel verlangen. Er greift, reißt auf: Nichts.
Also noch mal. Sie fällt ihm in den Arm. »Fred, bist du wahnsinnig?«
»Nein.«
»Wo soll das hin?«
»Ich kann doch jetzt nicht aufhören. Aber wenn du anderer Ansicht bist –.« Er legt die Hände in den Schoß und sieht das Mädchen fragend an. Ihr Gesicht glüht wie ein Lippenstift, die Nasenspitze ist wachsweiß. »Tu meinetwegen, was du willst«, flüstert sie.
Er hat nichts mehr zu wollen. Er muß. Ein neuer Griff. Riß: Nichts. Griff. Riß: Nichts.
Noch mal – er hat bereits Übung.
Der Mann im Cape macht gern Geschäfte. Aber das hier wird ihm unheimlich. »Zwo Mark fufzig – drei Mark – wollen Sie jetzt wenigstens –« fragt er mit bedrohlich schwellender Stimme.
»Stören Sie nicht mein Glück! Ich mache Sie haftbar.« Noch ein Griff: Nichts. Der Capemann weicht zurück. Fred hat einen langen Arm und den Mut der Verzweiflung. Greift abermals. Reißt auf: 5 Mark.
In Buchstaben: Fünf Reichsmark.
Neun Lose weniger ein Freilos macht 4 Mark. – Danke, Wiedersehen –.
Fred spielt mit dem gewonnenen Markschein. »Wie ist das, Erika, du wolltest noch eine Portion Eis?«
»Ich verzichte.«
Sie ist wieder zu sich gekommen; ihr Gesicht ist abgeblaßt, ihre Ohren glühen. Sie denkt sich ihr Teil. Oh, das ist ein Spieler, ein Hasardeur. Ein Hochstapler. Die arme Frau, die den mal kriegt!
»Übrigens möchte ich jetzt gehen.«
Er reicht ihr den Mantel und fühlt heimlich in seine Westentasche: Nett, daß er den Zwanzigmarkschein nicht anzugreifen brauchte.
Warte nur, balde –
Denn die Hälfte seines Lebens
Wartet der Soldat vergebens
Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, haben wir alle etwas Soldatisches. Warten tun wir immer und überall, mit und ohne Grund: auf die Straßenbahn, auf den Ersten, auf die Freundin; auf die Mittagspause, auf den Geldbriefträger; auf die Zeitung, auf das Glück. Warten ist, nächst Schlafen, die ausgedehnteste Tätigkeit unseres Lebens. Obgleich es eigentlich – wie das Schlafen – gar keine Tätigkeit, sondern das Gegenteil davon ist. Eben darin liegt das Wesen und das Verhängnis des Wartens.
Speziell die Straßenbahn ist zum Warten da. Sie wartet, wenn wir drinsitzen, auf irgendeinen Anschluss. Sonst ist das Warten an uns. Sie ist immer gerade weg, wenn man kommt. Es ist ein unerforschtes Naturgesetz, das mit der Wahrscheinlichkeitslehre in Widerspruch steht. Es beruht darauf, daß wir nur die ungünstigsten Fälle behalten, weil wir uns darüber ärgern.
Zur Verschönerung des Wartens dienen die Wartehäuschen. Meist ohne Bänke; das stilvolle Warten wird im Stehen ausgeführt. Bänke könnten zum Schlafen verführen; vielleicht könnten auch in tiefer Nacht paarweise Leute, die gar nicht warten wollen, sich dorthin verirren. Es wird schon einen Grund haben. Auch die Wartesäle der Eisenbahn sind keine kosigen Gemächer. Reisende gehören in den Zug. Im Wartesaal zweiter Klasse sitzen die Reisenden dritter Klasse. Und wo sind die Reisenden zweiter Klasse? Sie fahren Auto. Dafür warten sie an Straßenkreuzungen und Tankstellen.
Die poetische Form ist das Warten auf »sie«. Zu diesem Zweck wurde die Normaluhr erfunden. Vielleicht soll sie erzieherisch wirken; dann war der Erfinder ein Trottel.
Im Warten beweist man die Eignung zum Ehemann. Darum machen die jungen Damen so gern Gebrauch von dieser Prüfung. Solange man wartet, darf man alles: ein muffiges Gesicht ziehen, von einem Bein auf das andere treten, alle zwanzig Sekunden auf die Uhr sehen. Man darf auch innerlich ein Ultimatum stellen: noch zehn Minuten, dann wird gegangen! Nach zehn Minuten stellt man das letzte Ulitmatum: noch fünf Minuten, dann ist Schluss. Und nach fünf Minuten das allerallerletzte, es ist wie ein Zirkus, der die letzte und allerletzte und immer noch eine neue Abschiedsvorstellung gibt. Mit diesen Ultimata vertreibt man sich die Zeit, sammelt Zorn und präpariert einen Auftritt. Aber wenn sie dann endlich kommt, die Ersehnte, süß und unschuldig wie eine Madonna, dann ist
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