Heiße Sonne der Verführung
durchbohrt worden.«
»Erspart mir Eure Spatzentränen, Mylord«, winkte der alte Mann ihn ohne Mitleid ab.
Verdammt und zugenäht, wer hatte eigentlich noch nicht von ihrem Streit gehört? »Glaubt Ihr eigentlich, dass es mir gefällt, mich so zu fühlen?«
»Hai, denn Euch gelingt es, zehn Jahre lang dem größten Schmerz ausgesetzt zu sein, während ein anderer leidet.«
»Ich habe nicht vorgehabt, Aurora wehzutun, alter Mann.«
»Ihr seid ein blinder Mann, der durch einen Zaun schaut!« Rans Blick verschärfte sich. »Sayidda hat also auch Euch schon beeinflusst, wie ich sehe.« Shokai atmete ungeduldig aus. »Oftmals gelingt es uns, sieben Fehler bei anderen zu entdecken und nicht einen einzigen von unseren zehn.«
»Ich weiß, dass ich nicht unschuldig bin, aber Ihr könnt nicht von mir verlangen, alles einfach zu vergessen.«
»Um Elternliebe und die Größe von Vergebung verstehen zu können, muss man erst selber ein Kind haben.«
»Das glaube ich nicht«, murmelte Ran in seine Tasse hinein, trank dann und konnte schon fast Shokais unerbetenen Rat voraussehen.
»Ach, aber Ihr habt es ja schon miterlebt, als Sklavendieb, Geächteter, Pirat und Entführer.« Er verschränkte seine Arme und wartete ab, bis die Worte bei ihm ankamen und Ran erkannte, dass nicht nur Aurora, sondern auch seine Mutter ihm ständig Untaten und scharfe Worte vergab. »Seht Ihr«, nickte Shokai, sich seiner Erleuchtung bewusst, »zu lehren heißt lernen, nicht wahr? Meine Kaiserin urteilt nicht nur aufgrund dessen, was sie hört oder sieht, sondern aufgrund dessen, was sie hier fühlt.« Er klopfte sich auf seine schmale Brust. »Das habe ich schon immer an ihr bewundert«, gab Shokai mit völliger Offenheit zu und zuckte dann mit seinen schmalen Schultern. »Oftmals ist es die Sprache, durch die man eine Lady erobert. Mutter sowie Geliebte.«
Ran starrte konzentriert ins Feuer.
»Früher oder später werdet Ihr schon noch merken, was Ihr wirklich denkt und fühlt«, fügte Shokai hinzu.
Schweigend tranken sie ihren Tee; Shokai schaute den englischen Captain an, Ran starrte in die tanzenden roten Flammen.
»Mylord?«
Lediglich Rans Augen schauten hoch.
»Ihr werdet das Herz eines anderen Menschen erst kennenlernen, wenn Ihr in Euer eigenes schaut.«
Ran atmete angespannt aus und erhob sich dann. »Meinen Dank, Shokai.« Shokai erwiderte die Bemerkung mit einer leichten Verbeugung. »Solltet Ihr irgendetwas benötigen«, fügte Ran noch hinzu, wobei er auf die dürftige Einrichtung schaute, »so kommt einfach zu mir.«
»Jeder zusätzliche Gegenstand, den ich besitze, bedeutet zusätzlichen Ärger.«
Ran nickte und drehte sich um, dann hielt er jedoch am Eingang inne, um noch ein letztes Mal zurückzuschauen. Shokai zog den gabelförmigen Silberkamm, der seinen Dutt festhielt, heraus und starrte auf die messerscharfen Zacken. Und Ran wusste, dass sein Zurückschauen bemerkt worden war. »Nachzugeben, Mylord, ist manchmal der größere Sieg.« Nachdem er allein war, atmete Shokai tief aus und ging zu seiner Pritsche hinüber. Seine alten Knochen knackten, als er sich zum Ausruhen hinlegte.
»Selbst die höchsten Bäume«, murmelte er mit leisem Gekicher, »können durch einen kleinen Sturm geknickt werden.«
28
Sayidda Ashran war eine starke Frau. Es war jedoch eine erzwungene Stärke, entstanden aus der Liebe zu ihrem einzigen Sohn. Sie hatte viel durchgemacht seit jener Nacht in Grans Armen: ihren Sohn mithilfe eines mitfühlenden Eunuchen geboren und dann tagelang auf eine Nachricht gewartet, wie sie Kassirs Vater erreichen konnte, danach der herzzerreißende Moment, in dem sie ihr neugeborenes Kind abgeben musste, damit der kleine Junge das erste Jahr seines kostbaren Lebens überstehen würde. Die schmerzvollen Schläge, die sie für ihren Verrat an Ali bekommen hatte, waren jedoch nichts gegen die bissigen Bemerkungen von Kassir und die Verweigerung seiner Zuneigung. Und wenn Gran sie auch vor dem Tode bewahrt hatte, so hatte sie doch oft darüber nachgedacht, dass es eigentlich Allahs Absicht gewesen war, sie in jener Nacht sterben zu lassen, und dass der nie enden wollende Kummer, den sie nun erleiden musste, die Strafe dafür war, dass sie ihr Schicksal abgewendet hatte.
»Hier, mein Kind«, reagierte Sayidda schließlich auf das hartnäckige Rufen und blieb oben auf der Treppe stehen, wobei sie sich am Geländer festhielt. Die Treppe sieht heute ungewöhnlich steil aus, dachte sie, als Aurora, wie immer
Weitere Kostenlose Bücher