Heiße Sonne der Verführung
Domingo sie. Er hasste es, sie verlassen zu müssen, sie sah so einsam aus, saß einfach nur da und starrte durch die Achterfenster hinaus.
Auroras Schultern hoben sich, und sie seufzte tief. »Ich weiß, Señor Avilar.«
»Domingo«, verbesserte er sie, woraufhin sie über ihre Schulter zurückblickte. Ihre Lippen formten sich zu einem Lächeln, bevor er die Tür schloss.
Aurora lehnte sich gegen die Wand zurück, zog ihre Beine auf die Bank hoch und setzte sich in den Schneidersitz. Sie zupfte an den Falten ihres Gewandes und wünschte, Ransom wäre noch einmal zu ihr zurückgekommen, bevor er auf das Schiff gegangen war. Er hatte sich jedoch nicht die Mühe gemacht, sondern ihr einfach nur Nachrichten zukommen lassen und sie ansonsten gemieden.
»Nun gut, aber das wird nicht allzu lange möglich sein«, dachte sie laut. Es waren schließlich seine Kabine und sein Bett, und er wird beides vermissen. Und dann, vielleicht, auch sie.
Auf dem Bankkissen sitzend, schaute Aurora aus dem Bullauge und träumte vor sich hin. Sie hatte das kleine, konkave Glas aus der Schatulle geholt. Ihr gut trainiertes Hirn konnte die Bilder aus der Vergangenheit bis hin zu denen der Gegenwart mithilfe des Glases in ihr Gedächtnis rufen.
Mondlicht schien auf das Meer und wurde dort reflektiert, um ihr Gesicht und einen Teil der Kabine zu erleuchten. Auf dem Schiff war es ruhig. Es schaukelte sanft, und die Wellen klatschten rhythmisch gegen den Schiffsbauch.
Ein plötzliches Fiepen zerriss die Luft. Aurora zuckte zusammen und legte das Glas in die Schatulle zurück.
»Sei bloß still, du wirst noch den ganzen Haufen hier aufwecken, und was wird dann mit mir geschehen«, flüsterte sie dem Delfin zu, der seine stumpfe Nase durch das offene Fenster stupste. Sie hatte das eingerahmte Glas zur Seite geschoben, um frische Luft hereinzulassen, denn in der Kabine war es erstickend heiß. Das Säugetier war dann jäh erschienen, belästigte sie nun und richtete sich Wasser verspritzend mit aller Kraft auf seine Schwanzflosse auf. »Nun sei schon ruhig.« Der Delfin glitt wieder zurück ins Meer.
Aurora starrte noch eine Weile ins Nichts hinaus, dann schloss sie die Augen und verbannte Gefühle und nebensächliche Geschehnisse aus ihren Gedanken. Ransoms Bild erschien, einen Moment lang konnte sie es genießen. Dann stieß sie jedoch auch ihn hinaus und erzielte wieder die Undurchlässigkeit eines leeren Geistes. Ohne hinzuschauen knipste sie das winzige Schnappschloss auf und öffnete nochmals den Deckel der Schatulle.
Sie öffnete ihre Augen, beugte sich vor und starrte in das Glas. Es dauerte einen Moment, bis die Erinnerungen kamen, denn die Unterbrechung hatte ihre Kraft und ihr Sehvermögen geschwächt. Ein sich windendes Seil erschien, das mit Schwung über Steine und Kiesel streifte, außerdem ein roter Löwe und ein weißer Wolf, zum Angriff bereit, denn beide wollten das Seil besitzen. Der Wolf war gekommen! Sie seufzte, erleichtert darüber, dass ihr Vater in der Nähe und am Leben war. Aber der rote Löwe? War es Ransom? Warum sollte er mit ihrem Vater kämpfen? Aurora schaute sich das Bild genauer an. Sie war sich sicher, alles gesehen zu haben, was es dort zu sehen gab; dann überredete sie das Glas, noch tiefer gehend vorherzusagen. Das Glas wurde trübe, blau und flüssig, dann wurde es rot; sie runzelte die Stirn, denn das Ganze hatte nur einen Moment lang gedauert.
Sie konzentrierte sich, beschwor es und sang. Eine Urne, klein, birnenförmig und klar wie Kristall stand auf einem Tisch und Licht flackerte durch ihr leeres Inneres hindurch. Der Tisch war poliert, dem Stil und dem Holz nach zu urteilen von einem begabten Kunsthandwerker hergestellt. Er war herrlicher als jeder andere Tisch, den sie jemals sehen oder befühlen würde, und Aurora wusste, dass es die Umgebung war, die stets mehr erzählte als die Gegenstände oder Szenen, deren Zeugin sie wurde. Dann wurde sie plötzlich von einer Bewegung gefesselt, einem Flackern, das so schwach war, dass sie es beinahe übersehen hätte. In den Tiefen der Urne steckte eine Figur, in Dunkelheit gehüllt bis auf den Umriss einer Schulter, eines Ellbogens und eines Stückes von einem Ärmel. Aurora konnte nicht erkennen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte, und sie strengte sich an, das Ganze klarer zu sehen.
»Was zum Teufel macht Ihr da?«, hörte sie jemanden flüstern. Aurora zuckte zusammen und seufzte, denn das Bild war nun verschwunden. Verärgert
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