Heißer Schlaf
anfühlte, als sei es gar nicht da. Großmutter und Vater schienen sich zu streiten, und er hätte gern gewußt, warum sie so leise sprachen, daß er sie nicht hören konnte.
Großmutter klatschte dicht an seinem Ohr in die Hände. Er dachte, sie wolle ihn schlagen, und duckte sich. Vater sah sie triumphierend an, aber Großmutter schüttelte den Kopf. Sie packte Reuben und rollte ihn auf den Bauch, so daß er die Wand ansah. Reuben sah nichts, aber er spürte einen Lufthauch am Ohr – wenigstens bewegte irgend etwas sein Haar.
Dann hörte er wie von weit durch den Donner eine leise Stimme. Er rollte sich rasch wieder herum, denn er wollte sehen, wer da rief. Aber es war Großmutter, und ihr Mund war nur ein paar Zentimeter von seinem Ohr entfernt. Sie schien zu schreien. Er antwortete: »Ich kann dich nicht verstehen, Großmutter, es hört sich so weit weg an.«
Aber sie schien über seine Antwort froh zu sein, und auch Vater sah erleichtert aus. Reuben verstand das alles nicht.
Aber er verstand sehr bald, daß er sein Bein nicht mehr gebrauchen konnte.
Im Laufe der Monate wurde sein Gehör allmählich besser, aber in seinem Bein hatte er immer noch kein Gefühl. Er konnte das Bein aus der Hüfte bewegen, aber er hatte keine Kontrolle über Knie oder Fuß. Und deshalb fiel er immer hin und ließ auch Gegenstände fallen, und Vater und Mutter waren sehr ungeduldig mit ihm. Aber nach einiger Zeit lernte er gehen, indem er das Bein nach vorn schwingen ließ und dann hart die Ferse aufsetzte, was sein Knie einrasten ließ. Er behandelte sein Bein ganz so, als sei es eine Krücke, gerade und hart wie ein Stück Holz. Dann schwang er sich darüber und warf das Bein wieder nach vorn.
Er konnte sich nicht selbst sehen, aber seine älteren Brüder und seine ältere Schwester verspotteten ihn unbarmherzig wegen seiner Art zu gehen.
»Du gehst wie eine Gottesanbeterin«, sagten sie. »Du gehst wie ein verkrüppeltes Kaninchen.«
Aber eines Tages kam Großvater zurück. Reuben war inzwischen alt genug um zu merken, daß Großvater jünger aussah als Vater und viel, viel jünger als Großmutter. Es war ein Geheimnis, aber ein Geheimnis, bei dem er das Gefühl hatte, daß er sich nicht danach erkundigen durfte. Noch ein Geheimnis war, warum ihm keiner antworten wollte, wenn er fragte, ob es außerhalb der Farm noch Menschen gebe, und woher sie kämen, und wer Großvaters Vater sei.
Als Großvater zurückkam, brachte er Reuben in den Schuppen hinter dem Haus und berührte ihn mit kleinen kalten Schachteln und Kugeln, und das machte ihm Angst, so daß er weinen mußte. Aber als Großvater ging, fing Großmutter an, Reuben jeden Tag eine Stunde lang das Bein zu massieren.
Darüber beklagte Vater sich, denn es dauerte ihm zu lange, und während dieser Zeit hätte sie wichtige Arbeit tun können. Aber Großmutter sagte: »Das hat Jason angeordnet, mein Junge, und dann werden wir es verdammt tun. Das Bein des Jungen ist wichtiger als das Unkraut.«
Vater sah wütend aus. Aber er ging aus dem Zimmer, und Großmutter massierte weiter.
Es nützte nichts.
Als Reuben fünf wurde, nahm Großmutter ihn hin und wieder zur Schranke mit. Er begleitete sie gern, bis er merkte, daß sie sich dem gerodeten Streifen näherten. Dann klammerte er sich an ihren Rock und versuchte, sie zurückzuhalten, sie wegzuzerren.
»Nein, Großmutter. Bitte!« Aber sie führte ihn direkt an die Schranke und sagte dann jedes Mal die gleichen Worte.
»Dies ist die Mauer um die Worthing-Farm. Auf dieser Seite der Mauer gibt es Leben und Nahrung und klares Wasser, und alles ist gut. Auf der anderen Seite der Mauer lauern Tod und Schmerz und schreckliche Einsamkeit. Was passiert, wenn du durch die Schranke gehst?« Sie sagte all dies mit so dunkler und schrecklicher Stimme, daß Reuben nur weinte und antwortete: »Ich weiß es nicht!«
Also erzählte sie es ihm, und wenn sie damit fertig war, schluchzte er so heftig, daß er kaum atmen konnte, und dann führte Großmutter ihn wieder von der Schranke weg. Nachts hatte er noch Wochen nach diesen Ausflügen zur Schranke schreckliche Alpträume. Oft wachte er schreiend auf und rief: »Jason! Hilf mir!« Aber Großvater kam nicht – nur Großmutter oder Mutter oder Vater.
Als Reuben sechs wurde, trat er auf einen spitzen Stein und schnitt sich den kranken Fuß. Aber er freute sich – denn er hatte den Schmerz gefühlt. Wie einen meilenweit entfernten kleinen Funken, aber er hatte ihn gefühlt.
Als er das
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