Heldenwinter
steht.«
»Aha.«
Schweigend beobachtete Namakan seinen Meister eine Weile dabei, wie er wortlos in die Nacht hinausblickte. Die Wolken waren weitergezogen, und am Himmel stand als dünne Sichel der Mond, dessen karges Licht die Landschaft aus Wiesen, kleinen Gehölzen und verstreuten Felsen in dunkle und noch dunklere Schatten schied. »Ich war noch nie dort draußen«, meinte er schließlich.
»Was du nicht sagst …«
Namakan seufzte leise und rieb sich die Oberschenkel. Es tat ihm gut, Dalarrs Stimme zu hören, weil ihr Klang seine eigene Aufregung über den Auszug in die Fremde dämpfte. Leider schien der Meister nicht in der passenden Stimmung für eine Unterhaltung, sondern hing offenbar lieber seinen Gedanken nach, die bestimmt um seinen Verlust kreisten. So wie Namakans Gedanken es taten, wenn er sie nicht unter großen Mühen in eine andere Richtung lenkte.
Aber ich will darüber reden, was dort draußen ist. Ich war noch nie dort. Ich werde ihm keine große Hilfe sein, wenn er mir nicht erzählt, wie es dort ist. »Lodaja und du, ihr kommt von draußen.«
Darauf erhielt Namakan lediglich ein Brummen und ein leichtes Nicken als Antwort.
»Wie seid ihr euch begegnet?«, bohrte er weiter.
»Willst du das wirklich wissen?«
»Unbedingt.«
»Hat sie nie etwas darüber erzählt?«
»Nein.«
»Diese Frau …« Dalarrs Schultern sackten ein Stück ein. »Sie war mir immer ein Rätsel, und jetzt wird sie mir auf ewig ein Rätsel bleiben. Ich dachte manchmal, ihre emsige Zunge würde sie gewiss überleben, und nun erfahre ich, dass sie bei allem, was sie den lieben langen Tag so schwatzte, es nie für nötig befunden hat, euch Kindern zu verraten, wie ich ihr Herz für mich gewann. Aber ich will es dir erzählen.«
Als ich Lodaja zum ersten Mal sah, stand sie nicht in Fleisch und Blut vor mir. Sie ist mir auch nicht im Traum erschienen. Ich glaube nicht an Träume und Weissagungen. Ich gebe keinen Furz auf sie. Das war eine ihrer Schwächen, keine von meinen.
Ich saß auf einer Bank im großen Saal einer Burg, den Kopf schwer vom Saufen und Fressen. Knochentrockener Rotwein und fette Wildsau. Dazu dicke Mohnknödel und geröstete Rüben. Das war der letzte Gang gewesen, den man mir aufgetischt hatte. Nicht die beste Mischung für den Magen, aber es wäre unhöflich von mir gewesen, nicht zuzulangen, bis es mir fast den Gürtel aufsprengte. Damit hätte ich meinen Gastgeber, den Burgbesitzer, beleidigt.
Immerhin kam ich gerade von einer Fahrt zurück, auf die ich in seinem Namen gegangen war. Es war nicht die erste, und es sollte nicht die letzte gewesen sein. Er zahlte bestens, und ich sah vieles in ihm, das mir Hoffnung für die Zukunft machte. Nun ja, wenn man den Kopf im eigenen stockfinsteren Hintern stecken hat, sieht plötzlich sogar ein Arschloch aus wie die strahlendste Sonne …
Auf eines verstand er sich jedenfalls: aufs Feiern. Und das Gelage, das er zu meiner Rückkehr veranstaltete, war ganz nach meinem Geschmack. Mehr Spielleute, als ein Igel Stacheln hat, genug Starkbier, um eine Zwergenbinge damit zu überschwemmen, und so viel Leckereien aus aller Herren Länder, dass sich die Tische darunter bogen.
Gräfling. So nannten die Vertreter der anderen hohen Häuser meinen Gastgeber. Ein Spottname, dessen Kränkung sich gleich auf zwei seiner Eigenschaften bezog. Für die erste konnte er nichts. Niemand sucht sich aus, aus welchem Schoß er kriecht, und wenn es nach dem Gräfling gegangen wäre, hätte er sich mit Sicherheit eine andere Mutter ausgesucht als die jüngste Schwester des Königs. Zum Beispiel die Königin.
Nun fragst du dich wahrscheinlich, weshalb es ein schlimmes Schicksal ist, in ein Königsgeschlecht hineingeboren zu werden. Weshalb klagt man darüber, wenn man in Honig ertrinkt? Es gibt viele Gründe, die ich dir aufzählen könnte, warum es bisweilen besser ist, als Sohn eines tüchtigen Müllers oder einer armen Wäscherin aufzuwachsen als am Hof von Silvretsodra, wo man niemals Hunger leiden oder sich den Hintern selbst abwischen muss, wenn einem gerade einmal nicht danach ist. Der Grund aber, der für den Gräfling seine Herkunft so unerträglich machte, war der, dass er von klein auf begriff, wie unbedeutend er trotz seiner hohen Geburt war.
Natürlich war es eine ausgesprochen eitle Form der Unbedeutsamkeit, wenn man sie mit der eines einfachen Soldaten oder der eines Bettlers auf den Straßen vergleicht. Vielleicht kann man sie nur verstehen, wenn einem
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