Heldenzorn: Roman (German Edition)
Alles stirbt. So ist die Welt. Was kann es schaden, einen Blick auf die Stelle geworfen zu haben, wo ich mich eines fernen Tages hinlegen werde, damit die Erde das von mir aufnehmen kann, was der Wind nicht fortträgt?
Teriasch breitete die Arme aus und spürte Schweiß über seine Haut rinnen. Er blinzelte gegen die Morgensonne an. Nach dem Zwielicht in der Hütte, in der er die Nacht allein mit dem roten Schein der Glut verbracht hatte, stachen ihm die grellen Strahlen in den Augen. Doch er wandte den Blick nicht ab. Sein Herz hämmerte in der Brust, sein Blut kochte wild wegen der prickelnden Kraft des Suds. Er wartete.
Gerade als erste Zweifel in ihm hochkrochen, dass ihm ein Fehler bei seinem Ritual unterlaufen sein könnte, hatten die Geister der Luft ein Erbarmen. Sie fuhren in einen der Wolkenberge, die sich am Himmel auftürmten, und rissen ihn in Fetzen. Teriasch hielt gebannt den Atem an. Die Wolkenfetzen senkten sich langsam auf die Steppe herab, als wäre der Winter angebrochen, um alles Gras mit einem weißen Schleier zu bedecken. Doch in ihrem Schweben gewannen sie eine neue Form: Ihre sanften Rundungen krümmten sich zu starren Winkeln, ihre verwaschenen Umrisse traten scharf hervor. Wie die Felsblöcke in den Verbotenen Lagern, die seit der Zeit der Ewigen Wanderin keine Sippe mehr aufsuchte, fügten sich die verwandelten Wolken zu Bauwerken zusammen. Für sie kannte Teriasch nur Worte, die für die Bewohner der Steppe kaum noch Bedeutung trugen: Türme, Brücken, Wälle, Tempel, Säulen … Es ist eines der festen Lager, in denen die Harten Menschen wohnen, begriff er. Doch was wollen die Geister mir damit sagen?
Er hörte ein schabendes Raunen und fühlte, wie sich etwas um seine Beine schlang. Er sah an sich herunter. Seit wann er inmitten einer Lache aus schwarzem Wasser stand, vermochte er nicht zu sagen. Hatte er sich von der Stelle, an der er die Arme ausgebreitet hatte, wegbewegt? War er vielleicht unbewusst ein paar Schritte nach hinten getaumelt, überwältigt von der fremdartigen Pracht der Wolkenstadt? Oder war das Wasser unter seinen Füßen aus dem Boden emporgestiegen und er hatte es nur nicht bemerkt, weil seine Sinne unter dem Einfluss des Suds standen? Es machte letztlich keinen Unterschied. Alles, was zählte, war, dass ihm nun auch die Wassergeister Zeichen sandten.
Um seinen linken Knöchel wand sich etwas, das entfernt wie eine gehäutete Schlange aussah. Bleiches, zuckendes Fleisch. Höher und höher kroch es an ihm hinauf, tastend und beinahe zärtlich, bis es seinen Oberschenkel erreicht hatte. Die Spur aus Schleim und Blut, die es auf ihm hinterließ, roch modrig und scharf. Das Ding hob den Kopf – nein, da war kein Kopf, nur ein einzelner Fangzahn, der vorne aus dem Muskelschlauch spross. An seiner Spitze glänzte ein dicker Tropfen einer gelben, zähen Flüssigkeit. Angewidert packte Teriasch das Ding mit beiden Händen. Es war glitschig, aber er zog und zerrte daran, auch auf die Gefahr hin, die Geister zu erzürnen. Sollen sie mir doch zürnen! Das sind nicht die Bilder, die ich wollte! Ich werde mich nicht stechen lassen! Es gelang ihm tatsächlich, das Ding von seinem Bein zu lösen, doch kaum hatte er es geschafft, zerplatzte es in seinem Griff und besprühte ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit dem gelben Rotz, der in seinem Innern aufgestaut war. Teriasch würgte, fiel auf die Knie und hörte eine Stimme, die zugleich viele Stimmen war, scheinbar von überall her auf sich einflüstern. »Du wirst lernen, uns zu lieben. Du wirst lernen, uns zu gehören. Du wirst lernen, was es heißt, ein Teil von uns zu sein.«
»Nein!«, brüllte Teriasch und hämmerte auf den Boden ein. Er erwartete, dass ihm kaltes Wasser aus der Lache ins Gesicht spritzte, doch seine Faust traf nur auf verdorrtes Gras. Die Erde unter ihm bebte, als hätte er sie mit seinen Schlägen bis in ihre Grundfesten erschüttert. Die Stimme erstarb, das Beben nicht. Teriasch hob den Kopf. Keinen Pfeilschuss vor ihm, am Rand der Senke, öffnete sich eine Spalte im Hang, aus dem eine Herde Pferde hervorbrach, wie sie alles Gras der Steppe niemals hätte nähren können. Dicht an dicht drängten sich ihre unzähligen Leiber, und das Donnern ihrer steinernen Hufe war ohrenbetäubend. Wie unter dem Klang von Kriegstrommeln stürmten die entfesselten Erdgeister auf die Bauten zu, die ihre Vettern des Himmels aus Wolken gebaut hatten. Das Trugwerk der Herrscher über die Lüfte hatte vor der Wucht der
Weitere Kostenlose Bücher