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Hemmersmoor

Hemmersmoor

Titel: Hemmersmoor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Kiesbye
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stellten sich vor den dampfenden Töpfen auf, um von ihrem Recht des ersten Bissens Gebrauch zu machen. Wir anderen warteten ungeduldig, bis wir an der Reihe waren. Anke und Linde waren mit ihren Eltern gekommen; sie trugen weiße Kleider, und ihre Zöpfe waren in genau der gleichen Weise geflochten und um ihre Köpfe gewunden. Sie winkten mir zu, und fast wäre ich zu ihnen hinüber gelaufen, aber ich besann mich schnell eines Besseren, tat als hätte ich sie nicht bemerkt und stellte mich mit hochrotem Gesicht hinter meinem Vater in die Reihe.
    Die Preisrichter schöpften Eintopf in ihre Suppenteller und schlürften und schmatzten mit wichtiger Miene. Sie waren per Los ermittelt worden, damit es eine möglichst neutrale Jury gäbe. Niemand durfte zweimal hintereinander Preisrichter sein.
    Hemmersmoor hatte seine Skandale erlebt. Neun Jahre zuvor hatte eine Bäuerin die Preisrichter bestochen und war für den Rest ihres Lebens vom Wettbewerb ausgeschlossen worden. Und seit Monaten hatten Heidrun Brodersens Triumphe in den letzten drei Wettbewerben Verdacht bei denjenigen erregt, die ihren Braten bei einer ihrer Essenseinladungen gekostet hatten. Doch im Großen und Ganzen hatte sich unser System als nützlich erwiesen.
    Und so waren alle überrascht, als nach einer halben Stunde gewissenhaften Kostens Helga Vierksen zur Siegerin erklärt wurde. Natürlich mussten die Preisrichter gerecht sein, aber sie waren auch der Tradition verpflichtet. Helga Vierksen den ersten Preis zu verleihen war wie ein Schlag ins Gesicht.
    Um so erstaunlicher war es, dass niemand, der ihren Eintopf probiert hatte – einen Rindereintopf aus Kartoffeln, Wurzeln und großen, zarten Fleischstücken – Einspruch erhob. Es schien, dass sogar die anderen Teilnehmer, darunter Größen wie die Apothekerin Rosemarie Penck, ihre Niederlage eingestanden. Helga Vierksens Töpfe sprachen laut und deutlich: Nur die ihren waren leer und so sauber, als ob Dutzende unserer Katzen sie ausgeleckt hätten.
    Helga war eine beleibte Frau mit flachen Brüsten und einem Lachen, in dem die meisten Zähne noch vorhanden waren. Sie nahm die hölzerne Gedenktafel entgegen und sagte ein kurzes Dankeschön. Sie war nicht so dumm, sich großzutun. Ihre fünf Kinder – der älteste Junge war einer meiner Klassenkameraden – standen um sie herum und versuchten, die Tafel in ihre Hände zu bekommen. Die Menge applaudierte zaghaft, aber doch überzeugt. Wir waren nicht herzlos.
    Der nächste Wettbewerb endete mit Heidrun Brodersens viertem Sieg in Folge. Ihre Nachbarn schüttelten ratlos die Köpfe, aber wer wollte an einem sonnigen Oktobernachmittag zu streiten anfangen?
    Als schließlich der letzte Wettbewerb begann, war das Gesicht meiner Mutter so rot, und die Haut so straff über Kinn, Nase und Wangen gespannt, dass ich fürchtete, sie könnte reißen. Sie stand neben den Preisrichtern, die falschen Zähne grinsten und die Drähte ihres Gebisses funkelten. Ihre zwölf Bleche Butterkuchen glänzten golden und buttrig, der Zucker glitzerte.
    Und wie wir aßen! Wir aßen und aßen, die fünfzehn Preisrichter gerieten ins Schwitzen. Bäcker Meier hatte sich der Herausforderung gestellt und unsere ohnehin hohen Erwartungen noch übertroffen. Aber hatte er meine Mutter überboten? Seine größeren Bleche schienen der einzige Unterschied zwischen seinem Kuchen und dem seiner Mitbewerberin zu sein.
    Also aßen wir weiter. Wir konnten diese Sache nicht dem Zufall überlassen. Herr Frick ließ Kaffee servieren. Das ganze Jahr über sackte er das Geld ein, das unsere Väter im Moor verdienten, doch zum Erntedankfest ließ er sich nicht lumpen.
    Als die Preisrichter sich daran machten, einen Gewinner zu ermitteln, deutete Jens Jensen auf Otto Nubis und sagte: »Otto, deine Zunge ist ganz schwarz.«
    »Nein, deine ist so schwarz wie Teer«, gab der Vorarbeiter von Brümmers Maschinenfabrik zurück.
    Als der Pastor sich einmischte und versuchte, die Männer zu beschwichtigen – vielleicht fürchtete er, dass ein Faustkampf, eine weitere Tradition des Erntedankfests, bevorstand –, wandten sich die zwei gegen ihn, hielten ihn fest und zwangen seine Lippen auseinander. »Deine Zunge ist so schwarz wie dein Rock.« Und so war es wirklich. Schon bald steckten wir alle die Zungen heraus, und sie waren schwarz, jede einzelne.
    Wir waren starr vor Schreck. Denn wir wussten, dass dies nur eine einzige Ursache haben konnte. Obwohl es keiner von uns persönlich miterlebt hatte,

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