Hemmersmoor
ließ die Geschichte des Dorfes keinen Zweifel zu. »Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot.« Wir hatten ein Leben lang Brot gegessen, aber die Erzählungen unserer Vorfahren und ihrer Not lebten fort. Wir wussten, was einige der ersten Siedler im Teufelsmoor getan hatten, um sich vor dem Hungertod zu retten. Jetzt war es noch einmal geschehen. Unsere Zungen waren schwarz; wir hatten Menschenfleisch gegessen.
Schweigen breitete sich aus, viele standen von den Tischen auf, als wollten sie fliehen. Dann wurde ein Murmeln hörbar, und alle Augen suchten nach den Wettbewerbern. Wer konnte uns so etwas angetan haben? Wer hatte unseren Kochwettbewerb und damit ganz Hemmersmoor besudelt?
Meine Mutter und Bäcker Meier waren über jeden Verdacht erhaben, aber wo waren die Köche der Eintöpfe und Braten? Einer von ihnen musste es getan haben.
»Heidrun war’s«, schrie einer. »Deshalb gewinnt sie jedes Jahr.« Es war mein Vater, der seine Stimme erhoben hatte. »Ich habe ihren Braten schon oft gegessen, und er taugt nichts.«
»Er hat recht«, kam Bernd Fitschen meinem Vater zu Hilfe. »Heidrun war’s. Das ist der Grund, warum das Fleisch so zart war.«
Die Beschuldigte war eine fette, charmante Frau, der die Männer hinterherpfiffen. Sie war immer nach der neuesten Mode gekleidet und ihre kleinen Füße steckten in den zerbrechlichsten Schuhen. Sie hielt noch immer die Gedenktafel in ihren Händen und keifte die Männer an. »Ihr undankbaren Hurensöhne. Ich habe schon immer hier gelebt, und jetzt fallt ihr über mich her, weil eure Frauen nicht kochen können.« Was sie anschließend vorbrachte, wurde von denen übertönt, die sie in Stücke hacken wollten, bis Hunderte von Händen nach ihrer Schürze und ihrem Kleid grapschten und sie voller Verzweiflung schrie: »Warum heute? Ihr habt meinen Braten schon oft gegessen. Ich kann es nicht gewesen sein.«
Heidrun lag bereits am Boden, und schon waren Schläge auf sie herniedergeprasselt, doch plötzlich ließen die Dorfbewohner von ihr ab. »Sie hat recht«, schrie Otto Nubis. Und während ihr der alte Vorarbeiter auf die Beine half, benutzte Heidrun die Gelegenheit, sich Gehör zu verschaffen. Ihre Lippen waren blutverschmiert, und sie wischte sie schnell an ihrer Schürze ab. »Ich war’s nicht. Es war Helga. Es war die Neue.«
Wieder herrschte Stille. Hemmersmoor konnte mit vollem Magen schlecht denken. Die Leute sahen sich nach der Neuen um. Wo war sie? Hatte sie sich aus dem Staub gemacht? Ja, Heidruns Anschuldigungen ergaben Sinn. Helga hatte uns Menschenfleisch vorgesetzt. Warum sonst hatte die Neue an zwei Wettbewerben teilgenommen? Warum sonst hatten wir ihre Töpfe leergekratzt? Ja, Helga, die Neue, war die Schuldige. Die Menge ließ von Heidrun ab.
Das schrille Geheule und Flehen halfen Helga kein bisschen und hielten niemanden zurück. Unsere Wut musste sich entladen. Jemand griff nach ihrem Kleid, ein anderer nach ihrem Haar, diesmal kannte das Dorf keine Gnade. Als Hemmersmoor mit ihr und ihren Kindern fertig war, und die Körper am Boden Säcken ähnelten, die man mit Fetzen, Steinen und Stöcken gefüllt hatte, übernahm mein Vater die Führung und ging der Menge voran zu Helgas Haus.
Wir setzten Haus und Scheune in Brand und verschonten auch die Stallungen nicht. Helgas Ehemann, der seine Schuld mit seiner Abwesenheit beim Erntedankfest eingestanden hatte, wurde von einer Axt gefällt und ins Haus zurückgeschleift, wo seine Überreste unter einstürzenden Balken und Wänden begraben wurden. Das ganze Dorf schaute zu und bejubelte das Feuer und half später bei den Löscharbeiten, nachdem die Flammen, die aus Helgas Scheune drangen, an der ihres Nachbarn zu lecken begannen.
Als endlich das Knallen und Fauchen nachließ, legte sich eine unheimliche Stille über das Dorf. Unsere Zungen waren noch immer schwarz, aber unser Zorn war verraucht. Unsere Väter standen wie Kinder um das verkohlte Haus herum, beschämt, schweigend, aber bereit, sich auf jeden zu stürzen, der sie anklagen sollte. Wir Jungen und Mädchen hatten uns heiser geschrien und suchten nun in den Trümmern nach kleinen Schätzen. Anke und Linde standen etwas abseits. Sie hatten einen halbversengten Frauenhut mit einer bunten Schleife und eine Kette mit einem grünen Anhänger aus der Asche gezogen. Ihre weißen Kleider waren schmutzig und verrußt, ihre Zöpfe hatten sich längst gelöst.
In jener Nacht spendierte Frick, ganz gegen seine Gewohnheit, eine
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