Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
Psyche passen, und nachdem meine Bilder verbrannt wären, würde Lisa sich jedenfalls nicht wundern, dass ich dermaßen durch den Wind und durch den Wolf gedreht wär, dass ich oben und unten nicht mehr unterscheiden könnte.
Tatsache wär allerdings, gab Lisa zu, dass man Anfang Januar bei einem gemütlichen Abend unter Freunden tatsächlich über das Thema Selbstmord gesprochen hätte, und sie, Lisa, tatsächlich von einem Professor erzählt hätte, der sich während eines Festes mit Freunden umgebracht hatte. Und Holger hätte das wohl nachahmen wollen, nur mit dem Unterschied, dass der Professor in ein abgeschiedenes Zimmer gegangen war und Holger halt am Tisch sitzen geblieben wäre, was Lisa als eine üble Geschmacklosigkeit empfunden habe.
Ich schaute mir Lisa im Zeugenstand an, die aussah wie eine Madonna, natürlich wie eine etwas verlebte Madonna, mit Ringen unter den Augen und den Falten, die sich von ihren Mundwinkeln nach unten zogen, aber dennoch: eine Ikone der Klarsicht, Vernunft, Ruhe, Rechtschaffenheit und Unschuld. Ich glaube, mein Unterkiefer klappte mir bis auf die Knie vor lauter Staunen: Sie behauptete wirklich, Holger hätte sich freiwillig umgebracht.
Der Richter wollte natürlich wissen, warum man denn nicht sofort die Polizei verständigt hätte, als Holger plötzlich und unerwartet nach Genuss eines zweiten Sorbets vom Stuhl gefallen war. Lisa antwortete ihm, dass wir alle, als das passierte, unendlich, unvorstellbar schockiert gewesen wären. Sie selbst hätte sich sofort erbrechen müssen und wäre zur Toilette gelaufen und wäre da bestimmt eine halbe Stunde nicht wieder weggekommen. Schließlich hätten wir alle an Holgers Eltern gedacht, deren einziges Kind Holger gewesen war, und wir wussten alle, dass das ganz, ganz furchtbar für diese Eltern werden würde. Ernst hätte die Eltern sofort anrufen wollen, sagte Lisa, aber Sophie hätte dafür plädiert, zuerst die Polizei zu verständigen, und die hätten ja dann die Eltern benachrichtigen können, und zwar besser als wir, weil die das ja öfter tun und nicht so wahnsinnig betroffen und mitgenommen wären wie wir. Jedenfalls, sagte Lisa, hätten Ernst und Sophie sich über diesem Thema richtig in die Wolle gekriegt, ihr erster Krach in ihrer so jungen Beziehung. Sophie hätte wahnsinnig geweint – und hier schaute Lisa im Gerichtssaal zu Sophie hinüber, die auch jetzt wieder flennte, was das Zeug hielt, und jeder im Saal glaubte sofort, dass Sophie an jenem Abend geheult hatte. Das zumindest schien sicher.
Lisa erklärte, dass die ganze schlechte Energie, die Holgers Tod an jenem Abend heraufbeschworen hatte, sich in Ernsts und Sophies Streit entladen hätte, der darum ging, wer zuerst angerufen wird, die Eltern oder die Polizei. Und so wäre jede Energie, die zu einer klaren, vernünftigen Handlung erforderlich gewesen wäre, irgendwann einfach verpufft gewesen. Alle wären nur noch erledigt und erschöpft gewesen. Sie selbst, so Lisa, hätte sich nicht nur ausgekotzt gefühlt, sondern sei es ja auch tatsächlich gewesen. Und sie müsse zugeben, dass alle mit der Situation einfach überfordert gewesen wären. Ja, das müsste sie jetzt doch sagen und einräumen, alle wären nicht mehr zurechnungsfähig gewesen, alle völlig schockiert und total überfordert, und man hätte darum die Nacht benutzen wollen, um zu ruhen und erst am nächsten Morgen eine Entscheidung zu treffen. Deshalb hätte man Holger halt erst mal auf Eis gelegt und das wär
natürlich
eine Dummheit und ein Fehler gewesen, das würde sie
selbstverständlich
einsehen.
Der Richter hat kein Wort dazu gesagt. Er saß da, stoisch und undurchschaubar wie ein Fels, und überhaupt sahen heute alle so aus, dass ich es sehr bedauerte in diesem Gerichtssaal, keinen Skizzenblock dabeizuhaben. Da saßen ein paar echte Gemälde im Saal, Häupter, Antlitze und Fratzen, hinter denen Gewitter von verborgenen Gefühlen zuckten … also richtig klasse. Sehr schöne Motive.
Der Richter forderte Lisa auf fortzufahren. Lisa sagte, man habe bald mein Verschwinden bemerkt, an jenem Abend, kurz nachdem man Holger in die Gefrierkühltruhe gelegt hatte. Man habe sich in der darauf folgenden Zeit schwere Sorgen um mich gemacht. Ich wäre nicht wieder nach Hause, also in meine Wohnung gekommen, und alle hätten sich geängstigt, dass ich mir was antun würde. Erst die Bilder, dann Holger, und das alles auf meine geschundene, ach, was rede sie, auf meine nachgerade zerschundene, sowieso
Weitere Kostenlose Bücher