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Hendrikje, Voruebergehend Erschossen

Hendrikje, Voruebergehend Erschossen

Titel: Hendrikje, Voruebergehend Erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Purschke
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nicht aufstehen. Ich guckte wieder runter und da stand Lisa mit verzerrtem Gesicht und schrie zu mir rauf: ›Spring! Spring endlich!‹, aber ich konnte nicht. Ich wollte so gern und ich konnte nicht.
    Ich kann mich an nichts erinnern, was danach passierte. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich von dem Dach wieder runtergekommen bin. Als ich später meine Pflichtverteidigerin fragte, sagte die mir, die Feuerwehr hätte mich runtergeholt, mit so ’ner Leiter, wo oben ’ne Plattform dran ist.
Wie man ein Kätzchen vom Baum pflückt
, hat sie gesagt. Dann hätte ich der Feuerwehr, den Sanitätern, die nur noch Ernsts Leiche einsammeln und sonst nichts mehr für ihn tun konnten, und der Polizei, die natürlich sofort kam, gesagt, dass ich Ernst vom Dach geschubst hätte. Aber ich kann mich da an gar nichts erinnern.
    Meine Erinnerung setzt erst wieder mit diesem Traum ein. Ich träumte, ich steh im Café und muss die Geschirrspülmaschine ausräumen. Ich stapele die Cappuccino-Untertassen, die heiß sind und an denen ich mich verbrenne, zu hohen Türmen, aber die Spülmaschine wird und wird nicht leerer, es kommen immer mehr Cappuccino-Untertassen heraus, und ich muss die immer schneller zu hohen Türmen auftürmen, und das Geklapper von dem Geschirr macht einen Höllenlärm.
    Als ich aufwachte, lag ich in einer kleinen Zelle, weiß getüncht und mit Gittern vor dem Fenster, und von draußen hörte ich es klappern: Da kam also diesmal das Geräusch her, das mich zu dem Traum inspiriert hatte: Es war der Schließer, der den Flur entlanglief und alle Zellen aufschloss. Na ja, und langsam dämmerte mir der Zusammenhang, ich war wohl in einem Gefängnis, in einer schönen, kleinen, gemütlichen Einzelzelle.
Der Schließer schloss auf und kommandierte mich zum Frühstück in einen großen mit Neonlicht beleuchteten Raum im Souterrain des Gebäudes, wo die Fenster unter der Decke klebten, und so sahen dann auch die anderen Frauen aus, die da in Untersuchungshaft saßen: grün im Gesicht, mit lila Lippen. Hübsche Gesellschaft, die ich mir da ausgesucht hatte.
    Nach dem Frühstück lernte ich meine Pflichtverteidigerin kennen, die Frau Kogge. Sie besuchte mich im Untersuchungsgefängnis ein paar Mal und hörte sich die ganze Geschichte an. Von meinen verbrannten Bildern und von Paula, von den Schulden, von Ernst und der Omi und von Holger, der meinen Selbstmord vereitelt hatte. Wie sich herausstellte, war Frau Kogge die erste außenstehende Person, die von Holgers Tod erfuhr.
    Holgers Eltern hatten wohl eine Vermisstenanzeige aufgegeben, aber niemand hatte Holger gefunden. Und so hatte irgendein zartfühlender Polizist den Eltern erklärt, dass sie vielleicht einfach nur begreifen müssten, dass ihr Sohn Holger ein erwachsener Mann von dreiunddreißig Jahren wär, der vielleicht länger in Russland geblieben wäre und vielleicht einfach keine Lust hätte, sich zu melden. Also stellen Sie sich das bitte vor: Es war mittlerweile Mitte März, und Holger lag seit Januar auf Eis.
    Die Frau Kogge sagte, genau wie später der Richter auch, Holgers Tod geht volle Kanne auf Ernst und die Tötung von Ernst sei reine Notwehr gewesen. Deshalb wollte sie auf Freispruch plädieren, was sie dann später auch tat.
Dann wollte sie wissen, ob Ernst mich da oben auf dem Dach angegriffen hätte, ob er vielleicht eine Bewegung gemacht hätte, von der ich hätte glauben können, sie sollte mich aus dem Gleichgewicht bringen, und ich sagte: ›Nein, hat er nicht. Ich war auch gar nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, ich saß nämlich ganz gut da oben. Ernst war die ganze Zeit über mit seinem eigenen Gleichgewicht beschäftigt.‹
    Da sagte die Frau Kogge, wenn Ernst aber tatsächlich nicht mal eine Handbewegung gemacht hat, von der ich hätte annehmen können, dass er mich damit schubsen wollte, dann sähe das nicht gut aus mit Notwehr. Das wäre dann doch ein Totschlag, den ich da begangen hätte. Da hab ich ihr lang und schmutzig auseinandergesetzt, dass es doch eine Notwehr war, denn allein die Tatsache, dass Ernst überhaupt zu mir aufs Dach gekommen war, hätte ich doch als Drohung empfinden müssen. Wo er doch, falls er nur mit mir hätte reden wollen, auf dem Dachboden hätte bleiben und durchs Fenster mit mir reden können. Wenn er nicht gewollt hätte, dass ich springe, hätte er ja nicht aufs Dach klettern müssen.
    Das wäre nicht zu beweisen, sagte Frau Kogge. Geradeso gut hätte er aufs Dach klettern können, um

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