Hendrikje, Voruebergehend Erschossen
ausliegt, und liest die Sugar-Brown-Kolumne vom Vortag, weil hier die Zeitung immer erst einen Tag später ankommt.
Dann geht sie auf Stube zu Gudrun, der Friseuse, die ihren Chef erschlug, weil der sie mehrfach vergewaltigt hatte, nur, sie erschlug ihn halt in einem Moment, wo er sie gerade nicht vergewaltigte, und hat acht Jahre abzusitzen deswegen. Dann erzählen sie sich was. Und als Gudrun hört, dass Hendrikje eigentlich Malerin ist, findet sie das
riesig
und will nackt gemalt werden und erlaubt ihr, auf der gemeinsamen Stube zu malen, würde sie echt nicht stören.
›Aber mich‹, antwortet Hendrikje ihr, ›es stinkt nach Terpentin und du hast keine Ahnung, wie viel Dreck das macht, und ich hab ja auch kein Malzeug hier.‹
Dann gehen sie bald schlafen, nur, dass Hendrikje nicht einschlafen kann, weil sie plötzlich an Bruno denken muss, der ihr ja eigentlich das Leben gerettet hat, und sie merkt, dass ihr das immer noch sehr peinlich ist und dass sie sich mal in aller Form für ihre Gemeinheiten im Café entschuldigen und auch noch mal bedanken muss. Seine Adresse weiß sie ja. Sie hat auch Schreibzeug auf Stube, und also macht sie Licht an und setzt sich auf im Bett, als sich auch schon Gudrun beschwert, dass sie bei Licht aber nicht schlafen kann, und da sagt Hendrikje ihr: ›Das muss jetzt aber sein.‹ Und Gudrun stöhnt genervt und zieht sich die Bettdecke über den Kopf.
Lieber Bruno
, schreibt Hendrikje,
ich weiß gar nicht, was aus Dir geworden ist. Gehst Du immer noch ins Café? Es ist irgendwie sehr schade, dass ich Dir dort keinen Espresso mehr machen kann, denn ich sitze mittlerweile im Gefängnis, weil ich meinen ehemaligen Nicht-Freund minderschwer totgeschlagen habe, nachdem ich bei Dir wieder weg bin, aber eigentlich war es Notwehr. Ich weiß noch, dass Du damals, als ich von Dir wieder weg bin, nachdem Du mich gesund gepflegt hattest, noch von mir wissen wolltest, wo ich hinwollte und warum ich wegwollte. Ich wusste das damals auch nicht. Aber heute glaube ich, dass ich von Dir weg bin, um mich noch mal gegen Ernst notzuwehren, naja.
Jedenfalls. Ich möchte mich bei Dir entschuldigen, weil ich immer so gemein zu Dir war. Als ich Dich zum Beispiel fragte, ob Du schon mal im Zoo warst und ob Du ausgebrochen wärst, weil man Dich schlecht gefüttert hat, da habe ich das eigentlich nur gesagt, weil ich das mal im Kino gesehen hab, in dem Film »Die Sonne, die uns täuscht« von Nikita Michalkov, da fragt das ein kleines Mädchen die grimmigen stalinistischen Beamten, die seinen Vater zur Erschießung abholen, und damals im Kino war das ein Riesenlacher im Publikum, und ich wollte einfach auch mal diesen Satz sagen, aber Du bist ja schließlich kein Stalinbeamter. Und wenn an Deinem Platz im Café irgendjemand anders gesessen hätte, dann hätte ich das auch zu irgendjemand anderem gesagt. Ich habe immer noch Deine Sachen an, die Du mir damals gegeben hast, und also tut es mir natürlich extrem leid, dass ich gesagt habe, Deine Klamotten wären eine optische Unverschämtheit, denn in der wohne ich ja nun.
Und dafür, dass ich so gemein war zu Dir, hast Du mich dann an meinem schwärzesten Tag vom Hauptbahnhof aufgelesen und mich gesund gepflegt und sogar einen Arzt kommen lassen und das hat ja wahrscheinlich auch Geld gekostet. Und Du kannst ja echt toll kochen. Na ja, jedenfalls danke. Ich hoffe, Du bist mir nicht mehr böse. Wenn Du mir nicht mehr böse wärst, wär’s gut für meinen Seelenfrieden.
Als ich von Dir weg bin, habe ich ein paar Tage lang in einem Abbruchhaus gelebt, ungefähr in der Mitte der Friedensallee, Ecke Planckstraße. Es liegt dort hoffentlich immer noch in einem Zimmer im ersten Stock das Schmuckkästchen, das meine Großmutter 1945 vor den Russen gerettet hat. Ich würde Dich deswegen gern um etwas bitten. Kannst Du mal hingehen und gucken, ob es noch da ist? Und wenn es noch da ist, könntest Du es bitte für mich retten? Weißt Du, ich kann Dich mittlerweile echt gern leiden, aber ich will auch ehrlich zu Dir sein, denn wenn ich Dich mittlerweile nicht gern leiden könnte, dann würde ich Dich das auch bitten. Aber deswegen sage ich es ja auch extra: Ich bitte Dich das, weil ich dich echt gern leiden kann mittlerweile. Meine Großmutter hat sehr an dem Schmuckkästchen gehangen, und ich an ihr. Also.
Viele Grüße aus Fuhlsbüttel,
Deine Hendrikje Schmidt
Als sie Frau Doktor Palmenberg den Brief vorliest und sie fragt, ob sie den so losschicken
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