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Hendrikje, vorübergehend erschossen

Titel: Hendrikje, vorübergehend erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Stimme meiner Omi, die
     wie eine beleidigte Diva
›Ich reise ab!‹
schrie. Die ganze Wohnung schien mir wie eine Gruft zu sein, wie die unterirdischen Gänge einer Pyramide. Ich hatte den Eindruck,
     mit meinem Eintreten hätte ich den Sandlaufmechanismus ausgelöst und wäre gerade dabei, lebendig begraben zu werden, während
     die Eingänge sich für die nächsten 5000 Jahre hinter mir schlossen.
    ›
Ich muss sofort zurück ins Atelier
‹, dachte ich noch, der Gedanke war klar und laut genug, aber dann stellte ich mir vor, wie ich von zwei verschiedenen schlechten
     Gewissen geplagt die ganze Nacht zwischen Atelier und Wohnung hin- und herfahren würde, und zeigte mir selbst einen Vogel
     und legte mich ins Bett. Ich habe auch tatsächlich geschlafen, tief und fest.
    Am nächsten Morgen habe ich den Arzt angerufen. Der kam und stellte den Totenschein aus. Er schimpfte, dass ich so lange gewartet
     hätte, das dürfte man gar nicht, aber er |35| wollte bei einer 92-jährigen mal nicht so sein. Dann kam der Bestatter.
    Ich habe ihm gesagt, dass wir kein Geld haben, die Omi und ich, und dass es nicht teuer werden darf. Der Bestatter sagte,
     das billigste ist eine anonyme Beerdigung. Die Leiche wird verbrannt, keine Grabrede, kein Pfarrer, 2000 Euro. Alles andere,
     also Sarg, Blumenschmuck, Pfarrer und so fängt bei 4000 an. Naja, ich wollte jetzt echt nicht anfangen, geizig zu werden und
     ich dachte ja, ab März bin ich ein reiches Mädchen. Der Bestatter war mit Ratenzahlung einverstanden, und also habe ich der
     Omi ein ordentliches Begräbnis spendiert. Ich dachte noch: Ich kriege ganz easy einen Überziehungskredit, wenn die bei der
     Sparkasse hören, dass ich bei Rothwein ausstelle …
easy-beasy
.
    Dann war der Bestatter weg mit der Omi, die hat er gleich mitgenommen. Dann habe ich mir die Reste der Gans warm gemacht und
     die Gans aufgegessen, und dann bin ich mit dem Rad ins Atelier gefahren. Und wie ich auf den Hof komme, da ist der ganze linke
     Flügel des Gebäudes abgebrannt. Genau da, wo mein Atelier war. Es stakten nur noch so die verbrannten Grundmauern aus dem
     Boden … und ich hörte die Stimme meiner Omi, sie war also doch noch nicht abgereist.«
    »Was hat die Stimme Ihrer Omi denn gesagt?«
    »
Dresden ’45! Dresden ’45!
Das hat sie immer gesagt, wenn sie was besonders furchtbar fand. ›Dresden ’45!‹ wenn ihr offenes Bein sie gequält hat, ›Dresden
     ’45!‹, als die Briefe an meine Mutter aus Amerika zurückkamen. Ich bin auf die Reste meines Ateliers zugegangen, und ich sah,
     dass ganz professionell gelöscht worden war, die Feuerwehr musste in der Nacht noch da gewesen sein. Vier Atelierräume gab
     es auf der linken Seite, und drei davon waren abgebrannt, meins war das in der Mitte. Ich wollte das zuerst gar nicht |36| glauben, was ich da sah, ich dachte, ich hätte mich im Hof geirrt, oder in der Straße, oder in der Stadt. Aber nein, ich war
     ganz richtig hier. Ich konnte sogar noch die Reste von Bildern von mir erkennen, völlig verkohlte Reste, mit geschmolzener,
     zerlaufener Farbe. Also, die Arbeit von fünf Jahren war verbrannt, womit klar war, dass ich mir die Ausstellung im März bei
     Rothwein von der Backe wischen konnte. Und das war nur die Hälfte des Schreckens, die andere Hälfte war schlimmer und fühlte
     sich an wie ein Fußtritt ins Herz: War Paula etwa hier … in den Flammen? Was war ihr passiert? Ich weiß noch, dass ich mich
     vor lauter Angst plötzlich erbrach, ich hielt mich an einem halb abgebrannten Mäuerchen fest und gab die ehemalige Gans vor
     mein ehemaliges Atelier.«
    Doktor Palmenberg guckt Hendrikje fast ungläubig an. »Das ist wirklich … stark. Das ist … ja … ein … außergewöhnlicher Fall
     von … Schicksal.«
    »Das meinen Sie doch nicht im Ernst«, sagt Hendrikje knochentrocken.
    »Sie fühlen sich von meinem Mitgefühl verhöhnt?«
    »Nein! Nein, nur: Es ist kein Schicksal, begreifen Sie das nicht? Es ist ein klassischer Fall von
Machsal
, was denken Sie denn, warum ich hier bin und andere Hungerkünstler nicht?!« Hendrikje wird lauter. »Andere Leute haben auch
     Schicksal und landen deswegen noch lange nicht im Knast! Und Sie sollen mich nicht bemitleiden, sondern mir sagen, was ich
     falsch gemacht habe!«
    »Ich denke, das wissen Sie doch selber sehr gut: Vorhin haben Sie sich Halbherzigkeit vorgeworfen …!«, sagt Doktor Palmenberg,
     die Hendrikjes plötzliche Aggressivität wütend macht. »Endlich haben Sie

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