Hendrikje, vorübergehend erschossen
einem geschwungenen Band auf dem Rumpf. Tolle Arbeit, ganz sauber und filigran. Und ehe ich gucken konnte, da
gibt mir Dieter mein schönes rotes Rennrad frisch justiert zurück. Er hatte noch etwas Schmieröl an den Fingern, und plötzlich
lächelten wir uns an. Ich merkte, wie ich rot wurde, mir wurde ganz heiß, und Dieter grinste und strich mir eine Haarsträhne
aus dem Gesicht, weswegen ich jetzt ein bisschen Schmieröl an der Backe hatte. Da hab ich aber gemacht, dass ich wegkam, |30| denn ich bin schließlich mit Ernst zusammen, und lasse nichts geschehen, was ich Ernst nicht erzählen kann. Hätte erzählen
können, muss es wohl heißen.
Dann bin ich nach Hause zu meiner Omi und habe die Rothwein-Überraschung aus dem Sack gelassen, und die Omi hat sich wie Bolle
gefreut. Sie hat gestrahlt, wie ich das schon lange nicht mehr gesehen habe, sie kriegte Farbe ins Gesicht und lachte und
rief: ›Um Gottes willen! Ich kannte ja noch den Vater vom jetzigen Rothwein! Der Mann dreht sich ja im Grab ’rum, wenn der
wüsste, was sein Sohn sich in die Galerie holt!‹
Und da haben wir gelacht und ein Piccolöchen aufgemacht.
Ernst kam am Abend und schimpfte, dass der Farbkopierer kaputt gegangen wär, und ich fragte ihn, ob er Lust hätte, mit mir
und meiner Omi Weihnachten zu feiern. Aber Ernst sagte, auf so konservative Sachen wie Weihnachten mit der Omi hätte er keinen
Bock, als Nächstes würde ich wohl Kinder von ihm haben und ihn heiraten wollen, und ich soll nicht vergessen, dass ich nur
seine Geliebte bin und er mein Geliebter, aber ich könnte gern über Weihnachten mit ihm und ein paar Leuten in Österreich
Ski fahren, Sophie würde auch mitkommen. Da hab ich gesagt: Das geht nicht, ich kann die Omi Weihnachten unmöglich allein
lassen, und man weiß ja auch nie – es kann ja jedes Weihnachten das letzte sein, die Omi ist schon 92. Dann eben nicht, hat
Ernst gesagt, komm, wir ziehen uns die Bettdecke über’n Kopf. Das haben wir dann auch gemacht, und Ernst legte los, und an
der bestimmten Stelle hielt er inne und raunte mir wieder ins Ohr: ›Komm! Du zuerst! Lass dich fallen!‹ Aber ich musste passen
und Ernst ließ sich fallen.
Dann kam Weihnachten, Ernst war in den Skiurlaub nach Österreich abgereist und ich hab viel Geld ausgegeben, weil |31| ich ja dachte, ab März bin ich ein reiches Mädchen. Ich hab der Omi ein ziemlich teures Kostüm gekauft, eins für die Ausstellungseröffnung
in der Galerie Rothwein. Am Heiligen Abend hat die Omi uns eine Gans gebraten, und als wir gegessen hatten, hat die Omi ihr
Geschenk ausgepackt und das Kostüm gleich angezogen. Sie war begeistert. ›Todschick!‹, rief sie, als sie vor dem großen Spiegel
im Flur stand. Und dann kramte sie aus einer der hintersten Schrankecken ihr vor den Russen gerettetes Schmuckkästchen hervor.
Sie war ’45 vor den Russen aus Polen geflohen und hatte all ihr Hab und Gut während der Flucht stückchenweise verloren, nur
das Schmuckkästchen hatte sie gerettet. ›Vier Mal‹, so sagte sie immer, ›haben die mich kontrolliert: in Litzmannstadt, im
Vogtland, kurz vor Kassel und bei Hannover. Aber in meinen kleinen Handkoffer hat der Russe nicht mal reingeguckt.‹ Als ob
das jedesmal der Russe gewesen wäre. Ich glaub ja, dass die Omi den Engländer und den Amerikaner und den Franzosen immer nur
für den Russen gehalten hat, aber das gehört jetzt wirklich nicht hierher. Sie hielt mir das Schmuckkästchen hin, und ich
durfte mir was aussuchen. Es war voll kleiner Blümchenbroschen aus Messing, kaputten Kettchen und kleinen Ringen, und ich
hab mir einen kleinen Ring ausgesucht. Dann seufzte die Omi, die Gans lag ihr schwer im Magen, und dann sagte sie noch: ›Ach
Kind, hol mir doch mal meine Tabletten aus der Küche‹, und ich ging in die Küche und nahm die Tabletten, und als ich zurück
ins Wohnzimmer kam, da saß die Omi tot in ihrem Sessel.«
»Oh. Was haben Sie da gemacht?«
»Ich habe einen Zeichenblock geholt und sie skizziert. Es war plötzlich seltsam still im Zimmer. Ich konnte die Nachbarn hören,
die irgendwo ›Stille Nacht‹ sangen, und zwar sehr hoch und sehr schief, und ich gab mir Mühe, mit dem |32| Bleistift auf dem Papier nicht so viel Lärm zu machen. Ich hatte das Gefühl, die Omi kriegt alles noch mit. Irgendwann fiel
mir ein, dass sie möglicherweise sauer ist, in diesem Zustand gezeichnet zu werden, und da bin ich aber auch sauer geworden.
Weitere Kostenlose Bücher