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Hendrikje, vorübergehend erschossen

Titel: Hendrikje, vorübergehend erschossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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sturmfreie Bude und da gönnen Sie Paula die Reste
     der Gans nicht!«
    »Also das finde ich jetzt wirklich gemein von Ihnen, ich |37| glaube, Sie missverstehen mich mit Absicht! Die Gans nicht gegönnt! Ich habe auf meine Großmutter Rücksicht genommen!«
    »Nun, wenn Sie sich selbst belügen wollen, dem steht nichts im Wege, nur zu, aber dann sitzen wir in hundert Jahren noch hier.«
    »So lang ist meine Strafe nicht.«
    »Nein, aber von unserem Therapieerfolg hier hängt die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung für Sie ab!«
    Hendrikje bebt vor Wut, weil sie sich unverstanden fühlt. Sie zwingt sich zu schweigen. Doktor Palmenberg fährt so ungerührt
     wie ruhig fort: »Was Sie wollen, ist, Vorwürfe von mir hören, Sie wollen, dass ich sage: ›Ja liebe Hendrikje, wenn Sie so
     halbherzig waren, Paula im Atelier unterzubringen, wo das arme, gerade verlassene Mädchen nicht einmal die Reste eines Gänsebratens
     zu essen hatte, dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn Sie der liebe Gott persönlich bestraft, zumal es ja noch der Heilige
     Abend war.‹ Sie wollen den Nachweis von mir, dass Sie ein schlechter Mensch sind, denn nur ein schlechter Mensch, so glauben
     Sie, hat Ihr Schicksal verdient.«
    Hendrikje schweigt eine Weile und zwingt sich, nicht zu heulen. »Sie widersprechen sich ja die ganze Zeit«, sagt sie trotzig,
     »eben haben Sie doch selbst gesagt, dass ich halbherzig war.«
    »Hendrikje, was hätten Sie wohl davon, wenn ich Ihnen Folgendes sagte: Es war weder gut noch böse, Paula im Atelier schlafen
     zu lassen, es war einfach nur dämlich. Unüberlegt, unkonzentriert, unverantwortlich, überhaupt nicht nachgedacht, überhaupt
     nicht einen Moment lang überlegt, Paula Geld für die Jugendherberge zu schenken, wo Sie doch glaubten, ab März ein reiches
     Mädchen zu sein?!« Doktor Palmenberg sieht Hendrikje herausfordernd an.
    |38| »Wenn das die Wahrheit ist, dann sagen Sie das ruhig. Ich will die Wahrheit wissen«, sagt Hendrikje ruhig.
    »Was denn für eine
Wahrheit
?«, zischt die Palmenberg gereizt.
    »Die Wahrheit über mich. Warum mir das alles passiert und warum ich eineinhalb Menschen umgebracht habe.«
    »Meine Aufgabe ist nur, Ihnen dabei zu helfen, dass Sie selbst herausfinden, was Sie für die ›Wahrheit‹ halten. Ich stelle
     hier lediglich die Fragen. Haben Sie übrigens herausgefunden, ob Paula etwas passiert war?«
    »Oh ja«, sagt Hendrikje beleidigt. »Paula ist quietschlebendig und rennt da draußen irgendwo rum. In Freiheit.«
    Und dann steht Hendrikje einfach auf und geht raus.

|39| 4
    Nächste Sitzung. Die Palmenberg liegt hingegossen auf ihrer Fernsehliege, Nägel lackiert, diesmal in einem cremefarbenen Hosenanzug.
     Ihre braunen Wellen hat sie hochgesteckt. Hier und da fällt mal eine Strähne sanft auf die Schultern, und die ganze Frisur
     betont den schön geschwungenen Hinterkopf der Ärztin.
    Eine Unverschämtheit. Als Hendrikje früher noch lange Haare hatte und sich Hochsteckfrisuren machte, sah sie aus wie ’ne Straßenbahnschaffnerin
     im Hallenbad. Sie ist also wenig amüsiert und schaut Doktor Palmenberg feindselig an, aber die lächelt wie immer: aufmunternd
     und gelassen. »Nun«, fragt die Palmenberg, »wollen wir einfach weitermachen?«
    Hendrikje nickt tonlos und schweigt.
    »Erzählen Sie mir einfach, wie es weiterging. Am ersten Weihnachtsfeiertag haben Sie festgestellt, dass Ihr Atelier abgebrannt
     war. Was haben Sie getan?«
    »Ich wollte wissen, was aus Paula geworden war, ob ihr etwas passiert war bei dem Brand oder ob sie vielleicht sogar für den
     Brand verantwortlich war. Ich hab mich auf mein schönes rotes Rennrad gesetzt und bin die Straßen abgefahren, in denen ich
     Paula normalerweise immer getroffen habe, aber nichts. Kein Mensch weit und breit, alles leer gefegt. Die Menschen saßen alle
     zu Hause und feierten |40| Weihnachten, und wo Paula steckte, das wusste der Himmel. Aber je mehr ich nach ihr suchte, umso mehr wuchs in mir die Gewissheit,
     dass dieses kleine Biest sich einfach nur gut vor mir versteckte und irgendwo ganz unversehrt im Warmen saß. Ernst war im
     Skiurlaub und die Omi in der Kühllade des Bestatters, und ich wusste nicht, wohin mit mir.
    Ich hab versucht, meine Freundin Lisa in Schleswig-Holstein anzurufen, aber da meldete sich keiner. Da bin ich auf gut Glück
     zu ihrem Loft gefahren, obwohl ich eigentlich nicht glaubte, sie Weihnachten auf einer Baustelle anzutreffen. Aber … aber
     sie war doch

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