Hendrikje, vorübergehend erschossen
saß bei mir am Tresen und las die Gästezeitung,
und ich stand hinter dem Tresen |13| und las meine eigene Zeitung, Sugar Browns Kolumne. Da kam Holger und weil ich gerade ein bisschen Zeit hatte, habe ich für
jeden von uns einen Eisbecher gemacht, einen für Holger, und einen für mich. Dann habe ich beide Eisbecher auf den Tresen
gestellt, und Holger hat angefangen, seinen zu essen. Ich habe meinen Eisbecher erst einmal stehen lassen, weil ich Holger
die Kolumne vorgelesen habe.«
»Gut«, sagt Doktor Palmenberg, »unsere Zeit ist für heute gleich um, ich habe ein paar Fragen. Wer ist Holger?«
»Holger ist ein sehr guter Freund von mir. Wir sind zusammen aufs Gymnasium gegangen, er ist Übersetzer geworden, er liebt
Literatur, er hat eine Neuübersetzung von Tolstois
Krieg und Frieden
gemacht, die ihm aber kein Verlag abkauft, er übersetzt jetzt erst mal die Beipackzettel von ausländischen Medikamenten.«
»Wenn Sie die Arbeit im Café mit dieser wohl eher unangenehmen Chefin so fürchterlich finden, Sie schildern das ja sehr plastisch,
warum haben Sie nie an einen Wechsel gedacht?«
»Ja glauben Sie denn, dass es woanders besser ist? Ich habe schon in ganz anderen Etablissements gearbeitet, also ich kann
Ihnen sagen, dagegen ist es bei Goebbels das Paradies.«
»Sie haben mir einen Tag geschildert, an dem ungewöhnlich viel zu tun war, weil es Zeugnisse gegeben hatte. Zeugnisse gibt
es aber nur zwei Mal im Jahr. Kann ich davon ausgehen, dass der von Ihnen geschilderte Stress-Vormittag eher die Ausnahme
darstellt?«
»Nein! Ja, glauben Sie mir denn nicht? Irgendwas ist doch immer! Sommerschlussverkauf, Winterschlussverkauf, Großreinemachen,
böses Wetter, das die Leute ins Café treibt … verunglückte Busse, Demonstrationen, Bombendrohungen, Touristen! Und wenn mal
ein Morgen wirklich |14| flau ist, dann hab ich weder Umsatz noch Trinkgeld! Das ist doch in Ihrem Beruf wahrscheinlich nicht viel anders, es ist doch
eine Psychose so schlimm wie die andere?!«
»Nein, nicht unbedingt«, gibt Doktor Palmenberg zu bedenken, »es gibt einfache und schwierige Patienten.«
Hendrikje schweigt.
»Unsere Zeit ist um«, lächelt Doktor Palmenberg.
Hendrikje nickt, steht auf, zieht leise die Tür zu und geht schweigend hinaus in den hellgrauen Betonflur. Was für eine Unverschämtheit,
solche Haare zu haben wie die Palmenberg, denkt sie. In kastanienbraunen, weichen Wellen fällt es über die Schultern mit einem
Glanz … ein Glanz wie eine gut im Futter stehende, frisch gestriegelte Stute. Lieber Gott, was bitte muss man essen, um einen
solchen Glanz in die Haare zu kriegen, fragt sich Hendrikje. Was muss man essen?
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Was hätten Sie lieber? Zahnschmerzen oder
Liebeskummer? Sie denken bestimmt: Liebeskummer
natürlich. Denn mit Liebeskummer
kann man viele schöne Sachen machen und
mit Zahnschmerzen nicht. Mit Liebeskummer
kann man in den Urlaub fahren, Eis essen und
dem Opa einen Brief schreiben, aber nicht mit
Zahnschmerzen. Man kann ins Kino gehen
mit Liebeskummer, eine neue Hose kaufen,
eine Pizza bestellen, aber nicht mit Zahnschmerzen
, denn mit Zahnschmerzen kann
man gar nichts tun. Genau deshalb hab ich
mich für Liebeskummer entschieden, als ich
dran war und gefragt wurde, und ich kann
Ihnen sagen, ich bereue meine Wahl. Nichts
kann man in Wirklichkeit, lieber Leser, rein
gar nichts kann man mit Liebeskummer tun.
Ich zum Beispiel kann nichts mehr essen
und nur noch Zigaretten rauchen, ich schlafe
nachts nicht mehr und mache meine Arbeit
schlecht, seit ich Liebeskummer habe, und es
ist ein zu beklagender Misstand, dass man die
Verursacher von Liebeskummer nicht wegen
Körperverletzung verklagen kann. Schließlich
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ist der Zustand teuer: Die regelmäßige Einnahme
magensäurebindender Mittel, die Alkoholvorräte
, die täglich neu angeschafft
werden wollen, die Verzweiflungskäufe von
Anzügen, die nie getragen werden, der nutzlose
Fleurop-Service. Nur das Telefonieren ist
entschieden billiger geworden, weil alle meine
Freunde es einfach nicht mehr hören können
und sofort auflegen, wenn ich mich nur melde.
Wer uns und warum auf diesen Planeten gestellt
hat, wollen die sich nicht einmal fragen.
Natürlich, denn sie wissen es. Sie sind hier, um
sich, wenn ihnen der Planet auf die Nerven
fällt, gemeinsam mit der von ihnen angebeteten
Person die Bettdecke über den Kopf zu
ziehen, und sie tun es. Als wär’s nichts. Und
die Schöpfung grinst blöde auf sie
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