Hendrikje, vorübergehend erschossen
Blick schweift ab über den grauen Industrieteppichboden; schockierend das. Nach einer längeren Weile
fängt sie an, mit Daumen und Zeigefinger ihre Unterlippe zu zwirbeln. Für eine noch längere Weile.
Leise räuspert sich die Palmenberg.
»Neben den Akten, also neben Darstellungen von Sexualität in der einen oder anderen Form in Ihren Bildern, gab es keine anderen
Motive?«
»Doch. Porträts und sehr viele Stadtansichten. Eisenbahnbrücken, Türme, Häuserschluchten, Höfe.«
»Und was mochte Ihre Großmutter daran nicht?«
»Sie sagte, meine Eisenbahnbrücken erinnerten sie an den Krieg.«
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»Ihre Eisenbahnbrücken erinnern mich an den Krieg«, waren dann auch genau die Worte, die der Galerist Rothwein benutzte, bei
dem ich am nächsten Morgen einen Termin hatte. Ich bin mit einer Mappe Dias zu ihm in seine Galerie, ich hatte mehrere Jahre
gebraucht, um diese Mappe voll zu kriegen und mich dann auch noch zu ausgerechnet Rothwein damit zu trauen. Aber Rothwein
war, das war schöner als im Märchen und übertraf meine Erwartungen bei weitem, völlig begeistert. ›Ja‹, sagte er, ›Sie sehen
den Krieg in allen Gestalten‹, und damit meinte er jetzt die Liebespaare, die sich umarmen. Und er schwärmte, wie ambivalent
diese Liebesakte seien, zart und brutal, hingebend und gleichzeitig tötend … und ich war froh, dass das endlich mal einer
merkte, was ich da malte. Genau so waren meine Bilder gemeint, aber ich selbst war schon völlig betriebsblind und konnte gar
nicht mehr einschätzen, ob das, was ich malen wollte, dann auch tatsächlich auf den Bildern zu sehen war. Das ist übrigens
immer noch so.
Also Rothwein machte sofort einen Termin für eine Ausstellung klar, ohne die Originale, die im Atelier standen, auch nur gesehen
zu haben. Es war Dezember, und im März sollte die Ausstellung sein. Eine Verkaufsausstellung, und Rothwein war sich sicher,
dass die Bilder weggehen würden wie geschnitten Brot. Er sprach auch von einem befreundeten |26| Galeristen in Zürich, mit dem er mich bekannt machen wollte, nur für den Fall, dass nach der Hamburger Ausstellung überhaupt
noch ein einziges Bild übrig wäre.
›Wollen Sie denn nicht wenigstens einen Blick auf die Originale werfen?‹, hab ich ihn gefragt, und Rothwein sagte, das wär
überhaupt nicht nötig, er wüsste, wie ein Bild aussieht, wenn er das Dia gesehen hat, aber wenn er’s schafft, dann kommt er
mal im Atelier vorbei, einfach so, um Guten Tag zu sagen. Also Rothwein holte wirklich seinen riesigen Büffellederkalender
raus und gab mir drei Wochen im März.«
»Das muss für Sie doch eine große Anerkennung gewesen sein.«
»Das will ich meinen. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe. Ich weiß noch, dass ich mich halb
tot freute und dachte: Hendrikje, du wirst dich nie wieder in deinem ganzen Leben so freuen wie heute! Das ist nicht mehr
zu toppen! Ich bin auf meinem schönen roten Rennrad nach Hause gefahren und habe auf der Kennedybrücke einen Handstand gemacht.«
»Sie sind vom Fahrrad abgestiegen, um einen Handstand auf der Kennedybrücke zu machen?«, fragt Doktor Palmenberg amüsiert,
und Hendrikje antwortet ernst: »Nein, ich habe auf dem Fahrrad einen Handstand gemacht, als ich gerade über die Kennedybrücke
rollte, auf dem Lenker!«
Die Palmenberg schaut Hendrikje an und weiß nicht, ob sie so was glauben soll. »… Aha … … Und dann?«
»Dann bin ich in Ernsts Copyshop, der wie immer ziemlich voll war. Ernst half Sophie gerade, Farbkopien zu machen. Ich sah,
wie sie beide ganz dicht am Kopiergerät standen und an den Farbeinstellungen rummachten, und ich weiß noch, dass ich dachte,
die stehen aber nah beieinander und sie sehen mich gar nicht, und ich weiß, dass ich fand, |27| dass Sophie ganz rot im Gesicht war und daß die beiden da lange standen. Mit Sophie hab ich studiert auf der Kunsthochschule,
und das Drama mit Sophie ist, dass sie irgendwie überirdisch schön ist. Sie sieht aus wie aus Marzipan und Goldstaub, wie
ein Weihnachtsengel, und sie ist Gebrauchsgrafikerin geworden und verdient viel Geld und riecht irrsinnig gut. Es waren auch
noch andere Kunden im Laden, Ernst hatte wirklich jede Menge zu tun, und erst als er weg war von Sophie und hinter die Kasse
ging, bin ich zu ihm hin und erzählte ihm, dass Rothwein mich ausstellen würde, naja, und Ernst war halt im Stress und sagte:
›Na bitte, geht doch.‹ Ich stand
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