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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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sie ihren Widersachern hilflos ausgeliefert. Bei dem Gedanken daran, was Konrad Sempach mit ihr anstellen würde, wenn er herausfand, dass sie eine Frau war, wurde ihr übel vor Angst.
    Rasch versorgte sie Raimund, dessen Willenskraft gebrochen schien. Mit leerem Blick ließ er alles mit sich geschehen, nahm zum Schluss ein paar Schlucke verdünnten Wein, die sie ihm einflößte, und reagierte nicht einmal, als sie das Talglicht nahm, ihm einen Kuss auf die Stirn drückte und seine Schlafkammer verließ.
    Melisande vergewisserte sich, dass alle Fenster so zugehängt waren, dass kein Blick ins Innere des Hauses möglich war, dann entkleidete sie sich. In Nerthus’ polierter Klinge betrachtete sie ihren Körper. Das Abbild in dem Streifen Metall war schmal und verzerrt, doch es besaß unverkennbar die Formen einer Frau.
    Tränen schossen Melisande in die Augen, ihr Blick wanderte zu der Truhe in ihrer Kammer, in der sie ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrte: ein Buch mit Geschichten über den Ritter Gawan, das Meister Henrich ihr besorgt hatte, ein Fläschchen Rosenöl, dessen Duft sie an ihre Mutter erinnerte, die Kleider, die sie an jenem schrecklichen Tag getragen hatte, das Kruzifix, das Vater ihr zur Geburt hatte anfertigen lassen. Ganz unten in der Truhe lag noch etwas. Das blaue Frauengewand, das sie im Geheimen genäht hatte. Nicht einmal Raimund wusste davon. Viel zu gefährlich wäre es, wenn man in der Truhe mit den Habseligkeiten des Henkers ein Frauenkleid fände. Melisande aber liebte dieses Gewand, den weichen, fließenden Stoff, der schimmerte wie der teuerste Samt aus Lucca, die kurzen weiten Ärmel, unter denen die weiße Cotte hervorblitzte, sodass der Blick auf ihre zarten Handgelenke gelenkt wurde. Manchmal, wenn sie unbeobachtet war, zog sie es an, stellte sich vor, damit durch die Straßen von Esslingen zu schreiten, höflich gegrüßt zu werden und die bewundernden Blicke der jungen Männer zu ernten. Vor allem die Blicke eines Mannes: Adalbert.
    Nein! Jäh wandte sie den Blick von der schemenhaften Gestalt in der Schwertschneide ab. Nie wieder wollte sie so an ihn denken. Er war es nicht wert. Adalbert Breithaupt verdiente es nicht, dass sie auch nur einen einzigen Gedanken an ihn verschwendete.
    Sie lief zur Truhe, zog das Gewand hervor und streifte es über. Langsam drehte sie sich im Kreis, stellte sich vor, sie sei auf einem Fest, einer Hochzeit. Ihrer Hochzeit. Sie tanzte und wirbelte herum, bis ihr schwindelig wurde, bis ihr Magen sich gegen die Strapazen des Tages auflehnte. Über dem Eimer, mit dem sie morgens frisches Wasser holte, erbrach sie sich und sank erschöpft auf den Boden.
    Agnes hatte ihrem Leid eigenhändig ein Ende gesetzt. Der Gedanke erschien Melisande mit einem Mal süß und verlockend. Sie könnte ein Messer nehmen, es würde kaum wehtun. Das Blut würde warm über ihre Arme laufen, und sie wäre von allem Schmerz erlöst.
***
    Ottmar de Bruce stellte den Becher ab, stand auf und trat vor den Wandteppich, der eine Schlacht darstellte. Weiße Mauern, Türme und Zinnen waren eingewebt, umgeben von einem türkisfarbenen Meer. Die Schiffe der Eroberer kamen von allen Seiten, bis an die Zähne bewaffnete Männer erklommen die Mauern, drangen trotz des heftigen Widerstands der Verteidiger in die Stadt ein. Der Teppich zeigte die Belagerung Konstantinopels im Jahre 1204. Die wehrhafte Stadt hatte den Angreifern lange standgehalten, war aber dennoch am Ende in ihre Hände gefallen, brutal geplündert und restlos zerstört worden. De Bruce hatte den Teppich aufhängen lassen, auf dass dieser ihn täglich daran erinnerte, dass keine Festung unbezwingbar war, dass man immer auf der Hut sein musste und sich nie zu sicher fühlen durfte.
    Er drehte sich zu von Säckingen um, der ihm beim Essen Gesellschaft geleistet hatte. »Und dieser Mann ist zuverlässig?«
    »So weit ich einem meiner besten Männer eben trauen kann.« Von Säckingen trat neben ihn. »Ich würde ihm nicht mein Leben anvertrauen, aber diesen Auftrag wird er pflichteifrig und gewissenhaft ausführen.«
    De Bruce schnaubte und musterte seinen Hauptmann von der Seite. Von Säckingen war wirklich kein Dummkopf und ihm in manchem ähnlich. Sie beide vertrauten letztlich nur sich selbst, und genau das machte sie stark. Nicht ohne Grund hatte de Bruce von Säckingen zu seinem Hauptmann gemacht. Er verstand etwas von Geschäften – auch von dem des Sterbens, und er wusste, dass es für ihn von Vorteil war, auf de

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