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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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nicht sehen konnte. Ihr Magen verkrampfte sich, in ihrem Kopf hämmerte es noch immer mit unverminderter Heftigkeit.
    »Gut, Melchior. Lass mich wissen, wenn du etwas Passendes für mich gefunden hast. Ich zögere die Ratssitzung so lange hinaus. Und wenn die Ware schmackhaft war, sorge ich dafür, dass alles im Sande verläuft und dich niemand behelligen wird.«
    Melisande hatte vorsichtig den Kopf gehoben, genug, um zu sehen, dass Sempach sich die feisten Hände rieb.
    »Wir könnten ins Geschäft kommen, du und ich«, sagte Sempach zufrieden. »Wenn du deine Arbeit gut machst. Ich kenne durchaus noch andere Herren, die für ein wenig ungezügeltes Vergnügen tief in ihren Beutel greifen würden. Da springt auch für dich etwas raus, Henker.« Er zwinkerte verschwörerisch, drehte sich um und stolzierte aus dem Raum.
    Melisande unterdrückte den Brechreiz und lehnte sich gegen die feuchte, kühle Wand des Ratskellers. Sempach bot ihr die Möglichkeit, ihren Hals aus der Schlinge zu ziehen. Doch der Preis dafür war hoch. Ihr Leben gegen das armer Mädchen, die in der Hoffnung auf ein Stück Brot und einen trockenen Platz zum Schlafen bereit waren, alles zu tun. Unschuldige Kinder, die für Melisandes Fehler den Preis zahlen sollten.
***
    Wendel Füger öffnete die Augen und erhob sich. Vor dem prächtigen Wandgemälde in der Dionyskirche, das die Heilige Jungfrau mit dem Gottessohn im Arm darstellte, hatte er auf Knien um die Gnade gebeten, gottesfürchtig und weise zu handeln. Nachdem er am Abend zuvor den Verlust des Messers bemerkt hatte, war er noch eine Weile unruhig durch die Gassen von Esslingen gestreift und hatte dann im Schlafsaal des Wirtshauses »Zum Eichbrunnen« eine schlaflose Nacht verbracht. Zweifel waren ihm gekommen, Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns, Zweifel an der Klugheit seiner Entscheidungen, Zweifel an Ottmar de Bruce’ überschwänglichen Freundschaftsbekundungen. Es hatte ihm geschmeichelt, wie viel Freundlichkeit de Bruce ihm entgegenbrachte. Ihm, dem einfachen Karcher. Das jedoch hatte ihn vergessen lassen, wer de Bruce war: ein mächtiger Graf, dem man nachsagte, dass er niemals den unteren Weg ging. Ein Mann, der nichts aus reiner Selbstlosigkeit tat. Viele einflussreiche und angesehene Herrschaften waren zur Brautschau auf die Adlerburg gereist. Warum also hatte de Bruce ausgerechnet ihm so viel Vertrauen entgegengebracht, dass er ihn zu dem seltsamen Treffen mit dem Henker mitgenommen hatte?
    Wendel bekreuzigte sich noch einmal und betrachtete das Bildnis. Die Heilige Jungfrau lächelte milde, ihr Blick schien zu sagen: »Sorge dich nicht, alles wird gut.«
    Wie gern hätte er ihr geglaubt! Er hatte gehört, die Gottesmutter sei nach dem Vorbild einer Esslinger Bürgerin entstanden, die den Maler aus Flandern geehelicht hatte, der vor einigen Jahren die Wandgemälde in der Dionyskirche schuf. Es hieß, Frauen seien dumm und schwach und viel anfälliger für die Versuchungen des Teufels als Männer. Für die meisten Frauen, die Wendel kannte, schien dies zuzutreffen, doch diese hier wirkte klug und gütig. Zu gern hätte er sie um Rat gefragt.
    Er drehte sich weg und wandte sich der Tür zu. Es dämmerte bereits, als er nach draußen trat. Vor ihm lag der Kirchhof, wo sich Gräber dicht an dicht drängten und der süßliche Geruch nach Tod und Verwesung in der Luft hing. Obwohl die Juniluft mild war, zog Wendel den Umhang enger um die Schultern und schritt aus. Er lief durch die Kirchgasse, bis die Düfte des Badehauses den Fäulnisgeruch der Gräber vertrieben. Eine Gruppe junger Männer kam ihm entgegen.
    Wendel trat zur Seite, um die Burschen vorbeizulassen, die offenbar schon mehr getrunken hatten, als gut für sie war. Der Kleidung nach handelte es sich um die Söhne wohlhabender Bürger, die ein Leben in Muße und ohne große Sorgen genossen.
    Die jungen Männer hatten ihn bereits passiert, als einer ihn plötzlich anrief. »Heda, Fremder, bist du nicht der Karcher aus Reutlingen?«
    Wendel blieb stehen und straffte die Schultern. Seine Hand schoss zu der Lederscheide am Gürtel, doch dann fiel ihm ein, dass sie leer war. »Wer will das wissen?«, gab er zurück.
    »Einer, dessen Familie seit Generationen besseren Wein keltert, als ihr Reutlinger es euch vorstellen könnt.«
    Wendel stöhnte innerlich und betrachtete den Burschen. Er zählte bestimmt noch keine sechzehn Sommer und sah dürr und schwächlich aus. Seine Begleiter waren ebensolche Milchgesichter. Von

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