Henningstadt
sich nicht so gruseln. Etwa die Hälfte des Geländes ist auch eher parkartig, weil die Stadt in einer Hauruckaktion Gräber eingeebnet hat. Sparmaßnahme. Entzückend. Auf dem Friedhofspark platz sieht er das Auto von Mark. Leer. Na, toll! denkt Steffen. Er hat keine Lust, Mark in die Hände zu fallen und im Park eine Diskussion über Funktionieren, Sinn und Zweck einer Schwulengruppe abzuhalten. Steffen muss niesen. Er hat doch keinen Bock auf Park, dreht um und geht nach Hause ins Bett.
Steffen wacht mit Kopfschmerzen und einer ver schnupf ten Nase auf. Er beschließt, nicht krank zu wer den, geht in den Keller und holt eine Flasche Sekt. Ein Sektfrühstück ist sicher das Beste, was man gegen einen Schnupfen machen kann, den man aus Frust gekriegt hat.
Er deckt den Tisch, zündet eine Kerze an, sucht eine leichte und fröhliche Musik aus und frühstückt.
Aus dem I hat er die neue Ausgabe des schwulen Blättchens der Region mitgenommen. Er liest wieder in den Anzeigen. Unter Verschiedenes findet er: Vermiete kl. Stein haus am Südrand der Cevennen. Low Comfort. Sehr abgelegen, und die Telefonnummer. Steffen ruft Frau Gerhard zu Hau se an und fragt, ob er dringend gebraucht wird. Wie sie das wissen soll? Zu Hause und ohne alle Unterlagen. Er kann machen, was er will, er ist ein Freier. Aber nur, wenn er ihr verspricht, dass es ein schöner Urlaub wird! Macht er. Ein Problem gelöst, bevor es eins ist, denkt Stef fen zufrieden. Er ruft den Menschen mit dem Steinhaus in den Cevennen an und macht die Sache klar. Ein Auto braucht man, meint der Vermieter. Gut, Autos kann man mieten. Plötzlich wieder voller Elan, schmeißt Steffen die Waschmaschine an und überlegt, was er noch erledigen muss. Die Post von zwei Wochen hat er gestern genervt in die Ecke geschmissen. Er sieht sie durch, füllt ein paar Über weisungsformulare aus und macht in seinem Ad ress buch mit Bleistift Kreuzchen vor die Namen der Leute, denen er aus den Cevennen ein Kärtchen schicken will. Es ist verrückt, gleich wieder loszufliegen, aber Stef fen gefällt der Gedanke, verrückt zu sein. Und außerdem wird er noch wahnsinnig in diesem Nest, das an allem schuld ist. Insofern ist er schon ein echter Henningstädter geworden: Schuld ist die Stadt.
16
Es ist Vormittag. Henning ist rechtzeitig aufgestanden, dann aber nicht zur Schule gegangen. Das schlechte Ge wissen plagt ihn und er beschließt, selbständig für seine Bildung zu sorgen. Henning kennt die Damen an der Aus leihe der Stadtbücherei ganz gut. Die eine ist furcht bar, die andern beiden sind nett. Henning hat zugesagt, über irgendwas für die Schülerzeitung zu schreiben. Die verfolgt einen gewissen Bildungsanspruch, der sich aus der Tatsache erklärt, dass sie von der Schule Geld für die Druckkosten bekommt. Beliebt und gern gelesen sind Schrift stellerportraits, in denen die portraitierte Persön lich keit sanft durch den Kakao gezogen wird. Aber eine Idee hat er noch nicht. Neben den Schließfächern steht ein Tisch, auf dem Flyer und Broschüren, Flugblätter und Kul tur reklame ausliegen. Eine offenbar religiöse Bro schü re titelt: Jesus heilt den See Gene z areth.
Henning sieht das Flugblatt der SIH. Schwul? steht in dicken schwarzen Buchstaben darauf. Er muss schlucken. Die Bibliothekarinnen kennen ihn und können von ihrem Tisch aus sehen, was er mitnimmt. Andererseits liegt es ja zum Mitnehmen da. Henning geht erst mal rein. Er schlen dert die Regale entlang, auf der Suche nach einem interessanten Buch oder Autor. Leider sieht man den Buch rücken nicht an, wie der Inhalt ist. Schließlich stößt er auf Marcuses Buch Obszön. Von Heinrich Mann nimmt er zwei Romane mit. Den hat er sehr lesbar gefunden. Also zurück zur Ausleihe. Hennings Herz fängt an zu pochen. Er kommt sich albern vor. Es geht nur darum, die sen verdammten Flyer mitzunehmen, und er fürchtet sich. Henning leiht sich erst die Bücher aus. Dann kann er nach draußen laufen, sobald er den Flyer gegriffen hat. Außer ihm und der Dame vom Dienst ist keiner da. Das hat den Vorteil, dass ihn niemand weiteres dabei beob achten kann, wie er den Flyer Schwul? einpackt, und den Nachteil, dass die Bibliothekarin ihn umso wahrschein licher beobachten wird, weil ihr langweilig ist. Kurz plau dert er über seine fingierte Magengrippe, weil sie gefragt hat, ob er für heute schon fertig sei mit der Schule. Frau Scheinschlag lächelt ihr feines gepflegtes Lächeln und be dauert Henning. Dass er nur
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