Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Henry dreht Auf

Henry dreht Auf

Titel: Henry dreht Auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Sharpe
Vom Netzwerk:
Wachgebäude zu nähern, noch vergrößert, indem sie scheinbar ganz zufällig einen Revolver durchs Fenster abgefeuert hatte, als Antwort darauf hatte Glaushof’s APP-Trupp seinerseits das Feuer eröffnet.
    »Wenn Sie glauben, daß ich mein Leben riskiere ...«, begann der Captain, doch da ergriff Wilt bereits die Initiative. Durch Öl und Schaum watete er hinüber zum Wachgebäude, das er Sekunden später mit vier kleinen Mädchen und einer dicken Frau verließ. Hodge sah ihn gar nicht. Wie die Kameraleute, war auch er mit seinen Augen woanders, doch hatte er im Gegensatz zu ihnen jegliches Interesse an der Katastrophe, die sich da am Tor abspielte, verloren. Das Agenten-Ex hatte ihn dazu bewogen, die Szenerie so schnell wie möglich zu verlassen. Es erschwerte ihm auch das Fahren. Als sein Polizeigefährt rückwärts gegen den Mütter-Bus krachte, dann nach vorne schoß und auf den Wagen eines Kameramanns prallte, bevor er die Straßenböschung hinunterrutschte und auf die Seite kippte, begriff er eins mit einem Mal: Inspektor Flint war doch kein so alter Esel gewesen. Jeder, der sich mit der Familie Wilt einließ, mußte mit dem Schlimmsten rechnen.
    Colonel Urwin teilte seine Gefühle. »Wir werden Sie mit einem Hubschrauber hier rausbringen«, sagte er zu Wilt, als immer mehr Frauen vor dem Tor zu Boden sanken. »Und was ist mit meinem Wagen?« fragte Wilt. »Wenn Sie glauben, daß ich gehe ...«
    Doch sein Protest wurde von den Vierlingen überschrien. »Wir wollen mit einem Hubschrauber fliegen«, kreischten sie unisono.
    »Bring mich bloß hier raus«, sagte Eva. Zehn Minuten später blickte Wilt aus dreihundert Meter Höhe auf das Muster der Landebahnen und Straßen, Gebäude und Bunker und auf das winzige Grüppchen Frauen, die in die wartenden Krankenwagen getragen wurden. Zum erstenmal empfand er eine gewisse Sympathie für Mavis Mottram. Bei all ihren Fehlern war es bewundernswert, wie sie sich mit aller Kraft gegen die banale Riesenhaftigkeit des Stützpunktes gestellt hatte. Dieser Ort wies alle Merkmale eines potentiellen Vernichtungslagers auf. Freilich wurden keine Menschenherden in Gaskammern getrieben, und es stieg auch kein Rauch aus Krematorien auf; aber es herrschte ein blinder Gehorsam gegenüber Befehlen, der nicht nur Glaushof, sondern sogar Colonel Urwin zur zweiten Natur geworden war. Eigentlich allen mit Ausnahme von Mavis Mottram und den Frauen in der Kette vor dem Tor. Alle anderen würden Befehlen bedingungslos gehorchen, wenn die Zeit gekommen war und der atomare Holocaust begann. Und diesmal würde es keine Befreier geben, keine nachfolgenden Generationen, die den Toten Gedenkstätten errichteten oder aus den Schrecken der Vergangenheit lernten. Dann würde nur noch Schweigen herrschen. Und genau dasselbe war es in Rußland und den besetzten Ländern Osteuropas. Schlimmer noch. Dort hätte man Mavis Mottram längst zum Schweigen gebracht, in ein Gefängnis oder eine psychiatrische Anstalt gesperrt, weil sie es wagte, eigenständig zu denken. Weder Fernsehkameras noch Fotografen lieferten Bilder von diesen neuen Todeslagern. Zwanzig Millionen Russen waren gestorben, um ihr Land vor dem Völkermord zu bewahren. Und wozu? Damit Stalin und seine Nachfolger zu große Angst vor ihren eigenen Leuten hatten, um ihnen zu gestatten, über die Alternativen zum Bau von immer noch mehr Maschinen zur Vernichtung des Lebens auf der Erde auch nur zureden.
    Das alles war geisteskrank, kindisch und bestialisch. Aber vor allem war es banal. So banal wie die Berufsschule und Dr. Mayfields Herrschergelüste und die übertriebene Sorge des Direktors, seinen Job zu behalten und unvorteilhafte Publicity zu vermeiden, ohne Rücksicht darauf, was die Dozenten für richtig hielten oder die Schüler lernen wollten. Dahin kehrte er jetzt zurück. Es hatte sich überhaupt nichts verändert. Eva würde sich weiterhin in wilde Schwärmereien verlieren, die Vierlinge würden vielleicht sogar zu zivilisierten Menschen heranwachsen. Wilt hatte da ziemliche Zweifel. Zivilisierte Menschen waren ein Mythos, waren legendäre Gestalten, die nur in der Vorstellung der Dichter existierten, wo sie frei von Fehlern und Schwächen waren und ihre gelegentliche Selbstaufopferung maßlos übertrieben wurde. Bei den Vierlingen war das unmöglich. Da konnte man bestenfalls hoffen, daß sie so selbständig und unbequem nonkonformistisch bleiben würden, wie sie waren. Und wenigstens genossen sie den Flug.
    Fünf Meilen vom

Weitere Kostenlose Bücher