Hera Lind
…«
»Das hattest du doch noch nie«, sagte Christian schelmisch. »Daran habe ich mich gewöhnt.« Ein feines Lächeln kräuselte seine Mundwinkel: »Im Sacher gibt es übrigens auch Bier. Nur aus der Flasche darf man dort als feine Dame nicht trinken. Außer wir gehen in die Tiefgarage …«
»Aber ich …«
»Dort können wir dann noch einmal über den Stand unserer Beziehung reden. Es sei denn, du legst entschieden dein Veto ein.«
»Aber …«
Als Nächstes spürte ich Christians Lippen auf meinem Mund. Sie waren so warm, so weich, so … vertraut. Das musste ein Traum sein. Ein Wunschtraum. Ich blinzelte verstohlen. Doch da stand er, der Mann meines Lebens, und hielt mich in seinen Armen. Die grünen Baumkronen begannen, sich über mir zu drehen, und mein Herz schlug im Dreivierteltakt. Ich ließ mich mitreißen, gab mich ganz seiner Umarmung hin.
Gestern war gestern. Und Morgen war morgen …
Ich küsste zurück, immer wieder. Bis Christian sich behutsam von mir löste und einen Schritt beiseite trat. Endlich konnte ich lesen, was er in den Baum geritzt hatte.
Es war nur ein Wort. Ein Wort, das ich glatt schon vergessen hatte:
»Jetzt.«
ZWÖLF JAHRE SPÄTER
Christian und Lotta sind seit zehn Jahren glücklich verheiratet. Sie mussten noch viele Hürden überwinden, aber das war es ihnen wert. Glücklich sind sie vielleicht auch deshalb, weil sie eine Fernbeziehung führen. Christian spielt über acht Monate im Jahr bei den Chicago Philharmonics, während Lotta mit ihren Kindern in Salzburg in einer Mietwohnung lebt. Sie hat tatsächlich einen Gefangenenchor im Männerknast gegründet. Der geht zwar nicht auf Welttournee, aber dafür ist ihr Gehalt ganz ordentlich. Ihre Schulden bei der Heilewelter Sparkasse hat sie fast abbezahlt. Nur noch vier Monatsraten von hundertvierundvierzig, dann hat sie es geschafft. Sie würde den Preis für Christian wieder zahlen. Männer sind wie Schuhe: Manchmal sind sie teuer. Aber wenn es die richtigen sind, muss man zugreifen.
Paulchen studiert Medizin in London und hat gerade sein Physikum mit Bravour geschafft. Lotta sagt oft lachend, dass er die Intelligenz vom Vater geerbt hat.
Luna ist in die Schauspielklasse des Mozarteums aufgenommen worden, und Stella studiert Kunst.
Anita hat ihren Doktor in Psychologie gemacht. Das Thema ihrer Doktorarbeit war »Ungleiche Paare in der Öffentlichkeit«. Sie lehrt inzwischen an der Universität Wien. Wegen ihrer Eloquenz und ihres guten Aussehens wurde sie schon oft zu Talkshows eingeladen. Inzwischen schreibt sie die Kolumne »Unter vier Augen« für das Magazin Modern Woman. Sie hat nie wieder geheiratet und schwört auf ihre Selbstständigkeit.
Ihre ehemaligen »Freunde«, die Kobaliks, hat sie aus den Augen verloren. Sie weiß nur, dass Rosie mit ihrem dicken Sohn in ihr ehemaliges Haus eingezogen ist. Und dass die Bremer Stadtmusikanten immer noch im Garten stehen.
Grazia ist Pilotin geworden. Benni und sie fliegen für eine private Airline aus Dubai. Gloria betreibt nach einem abgeschlossenen Psychologiestudium ein Fingernagelstudio, wo sie die dollsten Geschichten erfährt. Die Leute zahlen wesentlich williger, wenn sie dabei die Nägel lackiert bekommen.
Jürgen hat Brunhilde Zweifel geheiratet. Bei dem jungen Glück im Borkenkäferweg wohnt auch Oma Margot. Die beiden Opas sind gestorben. Leffers ebenso.
Bäckermeister Gerngroß gehört nach wie vor Vicki Airlines. Die Fluggesellschaft ist so erfolgreich, dass sie jetzt auch Langstreckenflüge nach Amerika anbietet. An Bord gilt »All you can eat«, solange die Anschnallzeichen noch nicht erloschen sind. Als Snack gibt es für jeden Passagier Vicki-Kipferl und zuckerhaltiges Kaltgetränk. Der Slogan »Wer nicht laufen kann, muss fliegen« kommt bei den Übergewichtigen besonders gut an.
Die Musikschule in Heilewelt fiel dem Gerngroß-Großkonzern »Vicki-Kipferl« zum Opfer. Dort riecht es nun nicht mehr nach Schülerschweiß, sondern nach Mehl und Hefe. Das Vicki- Kipferl kostet drei Euro neunzig, von denen ein Prozent der Behindertenhilfe zugutekommt. Es ist wahlweise mit Puderzucker oder mit Sauerkraut zu haben.
Vicki moderiert eine Volksmusiksendung im ZDF. Ihren Manager hat sie rausgeschmissen: Von ihrem Vater will sie nichts mehr wissen.
Justus Schaumschläger lebt in der Schrebergartensiedlung. Er ist Alkoholiker und Hartz-IV-Empfänger geworden.
Caspar hat den glatzköpfigen Flugbegleiter Markus in Amsterdam geheiratet. Beide sind eng mit
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