Hera Lind
Sondern Plakate, die für das Anna-Netrebko-Konzert warben. Und auch nicht mein Name stand groß als Ehebrecherin darauf, sondern … Ich erstarrte. Das Orchester unter dem fett gedruckten »Anna Netrebko« … Mein Herz setzte einen Schlag aus. Die Chicago Philharmonics! Nein, das konnte doch gar nicht … Das war doch nicht … Meine Beine gaben nach, und ich konnte mich gerade noch an einer Hauswand festhalten. Er war hier. Er war VIELLEICHT hier. Wenn er Dienst hatte. Aber wenn … Wenn er wirklich hier wäre … Wie sollte ich ihn dann … Wo würde er … Ins Festspielhaus kam ich nie und nimmer in diesem Aufzug, und schon gar nicht mit den Eis essenden Kindern! Ich warf einen Blick auf den Künstlereingang. Dort standen uniformierte Wachleute, die nicht so aussahen, als würden sie eine Touristenmutti mit drei Kindern und einem Au-pair-Jungen mal eben reinlassen. Der Pförtner hockte in seinem Glaskasten wie ein Späher, der feindliche Mächte auskundschaftet. Es stand ihm förmlich auf die Stirn geschrieben, was er dachte: Du Landpomeranze im Blümchenkleid wirst die Netrebko noch nicht mal von hinten sehen!
Gut, dass er mein Anliegen so falsch deutete. Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte den Uniformierten so beiläufig wie möglich: »Ist das Orchester schon da?«
»Hat gerade eine Stunde Pause.«
Eine Stunde. Wo sollte ich ihn finden? Es gab nur eine einzige, winzig kleine Möglichkeit. Eine Stunde. Die Zeit arbeitete gegen mich.
»Mami! Was glotzt du denn so? Können wir bitte weitergehen?«
»Was ist?«, fragte Caspar. »Du bist ja ganz blass geworden! Willst du etwa in das Konzert? Das kannst du vergessen, so wie du aussiehst …« Er grinste mich entwaffnend an.
»Nein, das ist mir viel zu teuer«, stammelte ich, und mein Blick schweifte suchend über die Menschenmenge. »Ich weiß nicht, ich hatte nur gerade so eine Idee …«
Die Menschentrauben wurden dichter, Pferdekutschen ratterten gefährlich dicht an uns vorbei, die Polizei begann das Gebiet abzuriegeln. Ich fühlte mich umzingelt. Die Menschenmenge war mein Feind, sie durfte mich nicht noch einmal verurteilen. Sie hatte kein Recht dazu!
»Kinder, lasst uns irgendwo hingehen, wo es ruhiger ist!« Hastig zerrte ich sie weiter. Ich fing an, zu rennen, und wusste plötzlich, dass ich um mein Leben lief.
»Mami, was soll das, bist du verrückt geworden?«
»Ich will doch nur noch ein bisschen Sonne genießen«, flunkerte ich harmlos. »Merkt ihr denn nicht, dass hinter uns schon alles im Schatten liegt?«
Auf einmal hatte ich Bärenkräfte, und die trieben mich an. Wir rannten lachend über die Staatsbrücke. Die Ampel vor dem Hotel Stein empfing uns mit Grün. Na bitte, wenn das kein Zeichen war! Die warme Abendsonne tauchte den Kapuzinerberg in flüssiges Gold, und die Vögel sangen in den Bäumen. Wir schwitzten, und meine Aufregung übertrug sich auf die Kinder. Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal.
»Boah, Mama, guck mal, voll die krasse Folterung!« Paulchen hatte die Kreuzwegstationen entdeckt. Ich musste lächeln. Fast spürte ich wieder Christians Hand in meiner, so wie damals im Februar.
»Können wir uns ein bisschen beeilen?«
»Warum denn, Mama? Wo willst du denn so plötzlich hin?«
»Ich weiß nicht, es könnte … dunkel werden. Und dann haben wir nichts mehr von der schönen Aussicht.«
Vom Kloster wehten Orgelklänge herüber.
»Wer zuerst oben ist!«, rief ich übermütig.
Für die Kinder war es ein Spiel. Für mich ein Wettlauf mit der Zeit. Feuerschuh und Windsandale , das war mein Lieblings-Kinderbuch gewesen. Ich war Feuerschuh. Windsandale sollte die Klappe halten. Ich musste da jetzt rauf.
Vom Kloster wehten Orgelklänge herüber. Ein junger Hund spielte im Gras, und ein Kind warf ihm Stöckchen. Mehrere Familien kamen plaudernd in kurzen Hosen den Berg hinunter. Die Luft strich lau über unsere Arme. War das hier wirklich derselbe steile Weg, den ich damals im Februar mit Christian gegangen war? Als alles grau und abweisend gewesen war? Die grünen Blätter der Bäume rauschten im Abendwind. Sie winkten mich gütig heran und raunten mir zu: »Man darf die Hoffnung nie aufgeben!« Ich wurde immer schneller.
»Mama, renn doch nicht so! Wie weit ist es denn noch? Wir haben Hunger!«
»Und voll steil ist es hier!«
»Wir sind gleich oben«, beschwor ich sie. »Auf dem Gipfel gibt es ein Schlössl mit den besten Gröstln der Welt. Und für Caspar und mich ein Bier.«
»Gibt’s da auch
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