Herbstbringer (German Edition)
Gletscher bestiegen … Nein, mir kommt es nicht so vor … als sei es letztes Jahr gewesen.«
Michael ließ sich nicht von der scheinbar schlechten Verfassung dieser Kreatur täuschen. Nosophoros war bei Weitem nicht so alt wie er selbst. Wenn er auch klanglich den Eindruck eines ohne seinen Zauberring rapide gealterten Bilbos erweckte – Michael wusste dennoch um seine Stärke.
»Nun, es ist müßig, über etwas derart Unbedeutendes wie die Zeit nachzusinnen. Letztlich wissen wir beide, dass sie nicht mehr als ein von Menschenhand geschaffenes Trugbild ist.«
»Und doch wird mir … das Verstreichen … des alten Gesellen … bei meiner Rückkehr … in diese Stadt … stets besonders … bewusst.« Nosophoros schmatzte abfällig, ein Geräusch, das selbst Michael gern überhört hätte. »Berge verändern sich nicht … wir verändern uns nicht … aber London … London verändert sich ständig … Die Stadt … ist wie eine wuchernde Krankheit … die sich immer weiter ausbreitet … und dabei hässlicher, verkommener … und unerträglicher wird … Selbst das Morden … ist hier … zu einer … unangenehmen Notwendigkeit … geworden.« Er spuckte aus.
Michael war sich sicher, daraufhin ein giftiges Zischen in Bodennähe zu vernehmen. Instinktiv trat er einen Schritt zur Seite. »Ist das so?« Er hüstelte. »Dann müssen all die mysteriösen Todesfälle in den Docklands ja ziemlich unangenehm gewesen sein.«
»Mach dich … nicht lustig über mich … Wie ich hörte … lässt sich selbst der große Michael … zu einem stillosen Mord … auf offener Straße herab … Ich habe wenigstens den Anstand … keine Zeugen zu hinterlassen … und meine Opfer der Themse zu übergeben … So, wie wir es schon … vor Jahrhunderten getan haben.«
Trotz dieser Schelte widerstand Michael weiterhin dem Impuls, sich zu der Gestalt umzuwenden. »Du bist meinem Ruf gefolgt. Bedeutet das, du bist bereit zu verhandeln?«
Das grässliche Geräusch, das diesen Worten folgte, konnte Michael erst nach einigen Augenblicken als das erkennen, was es darstellen sollte: Gelächter. Es klang, als würden morsche Äste brechen und anschließend in fauligem Morast versinken. »Du kennst die Antwort … auf diese Frage … ebenso gut … wie ich. Und denke nicht … dass mich diese zwei … armseligen jungen Dinger umstimmen … die du in einem vergeblichen Anflug … von Kollegialität in die Docks … bringen ließest … Du weißt … was ich verlange.«
»Und du weißt, dass ich dem niemals zustimmen werde«, schnappte Michael. Die lange, einsame Zeit im Exil hatte Nosophoros’ Sturheit anscheinend keinen Abbruch getan.
»Status quo«, ließ sich Nosophoros emotionslos vernehmen.
»Status quo.« Michael nickte. »Und doch bist du hier.«
»Der Herbst … kriecht wie eine lästige … Krankheit in die Bäume … und wird sie … nie wieder verlassen … Es wird nicht mehr … lange dauern … Und ich werde … bereit sein.«
Michael hob die Hände. »Gemeinsam könnten wir über diese Stadt, über die ganze Welt herrschen.«
Wieder zersplitterte totes Holz hinter ihm. »Das werde ich … auch ohne dich.«
Eiskalte Wut durchzuckte Michael.
»Du!«, donnerte er und fuhr herum. Doch er stand allein am Ufer.
15
Die Abreise kam schneller, als Emily lieb war. Wieder war sie mit dem Gefühl der Entfremdung aufgewacht, hatte eine Weile gebraucht, um in die Gegenwart zurückzufinden. Erinnern konnte sie sich an ihre Träume nicht. Ihr war vielmehr, als würde sie sich mehr und mehr von ihrem derzeitigen Leben entfernen und wieder die Person werden, die sie einst gewesen war.
Ohne vollständig ergründet zu haben, wer sie wirklich war, nahm sie unbewusst Abschied von dem Mädchen, dessen Leben sie bislang geführt hatte. Oder sie versuchte es zumindest. Da war zum Beispiel ihr wirklicher Name, der ihr nicht besonders gut gefiel. Sie würde bei Emily bleiben.
Ratlos stand sie in ihrem Zimmer. Was packt man ein, wenn man sein Leben verlässt?
Sie entschied sich, so gut wie alles zurückzulassen. Sie sah keinen großen Nutzen darin, schwer beladen auf eine Reise mit ungewissem Ausgang zu gehen. Sie wusste ja nicht einmal, ob sie Elias überhaupt finden würde. Elias unter Umständen noch heute Abend wiederzusehen, fühlte sich unwirklich an. Hastig machte sie die bevorstehenden Enthüllungen für ihren galoppierenden Herzschlag verantwortlich und versuchte, dieses gleichsam fremde und vertraute Gesicht aus ihren Gedanken zu
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