Herbstbringer (German Edition)
wenn wir Chemie heute schwänzen?«, fragte Emily, als sie am nächsten Morgen im Schulbus saßen.
Sophie machte ein schockiertes Gesicht. »Du und schwänzen? Emily, bist du das?«
»Ach.« Emily winkte ab. Sie war müde. »Ich habe einfach keine Lust. Außerdem muss ich mit dir über etwas reden.«
Die Albträume der letzten Nacht waren noch frisch. Sie hatten sich nicht mit dem Morgentau verflüchtigt und ihr dunkle Ränder unter die Augen gezeichnet. Trotz des Schreckens, den die nächtlichen Erlebnisse ihr offenbart hatten, spürte sie, wie sie durch die Träume mehr über sich erfuhr, wie sich ihre alte Identität Stück für Stück ihr Bewusstsein zurückeroberte. Sie schaute aus dem Fenster. Es schien ihr, als würde der Wind mit dem Laub der Bäume ihr bisheriges Leben davontragen und sie mit dem zurücklassen, was sie zuvor gewesen war.
»In Ordnung. Ich kann mir aber sowieso schon denken, um was es geht. Oder um wen.«
Emily wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte so schnell wie möglich zurück nach London. Gleichzeitig hatte sie riesige Angst vor dem, was sie noch alles erfahren würde. Über sich. Über ihre Vergangenheit. Über Elias …
»He, nicht so schnell«, keuchte Sophie, nachdem der Bus seine Fracht an der Schule abgeladen hatte. Schnellen Schrittes steuerte Emily das kleine Waldstück an, das nördlich an die Schule grenzte und selbst im Sommer immer nahezu menschenleer war. »Was rennst du denn so?«
Erst jetzt fiel Emily ihr hohes Tempo auf. Sie wartete, bis Sophie sie eingeholt hatte, und ging dann merklich langsamer weiter. Auch das war neu: Sie konnte sich auf einmal viel schneller bewegen und hatte das Gefühl, deutlich mehr aufnehmen zu können. Wenn das auch eine Folge ihrer wiederentdeckten Vergangenheit war, war wenigstens nicht alles an ihrem alten Leben schlecht gewesen.
»Tut mir leid. Ich will nur nicht, dass uns jemand sieht. Oder belauscht.«
»Du meine Güte, Emily, ich dachte, du willst mir nur was über diesen Typen aus London erzählen.«
Emily schluckte. Das würde schwer werden. »Ja, das will ich. Aber nicht so, wie du jetzt denkst. Dieser Kerl … Elias … er weiß etwas über mich und meine Vergangenheit. Ich muss ihn wiedersehen. Deswegen muss ich nach London. Und das lieber gestern als heute.«
»Was weiß dieser Elias denn? So, wie du seit deiner Rückkehr drauf bist, muss es was ziemlich Verstörendes gewesen sein.«
Emily antwortete nicht. Sie ließ ihren Blick durch den Park schweifen. Obwohl die Bäume auch hier überwiegend ihr Herbstkleid trugen, waren noch vereinzelte grüne Blätter an ihnen auszumachen.
»Siehst du irgendwo ein grünes Blatt an den Bäumen?«
Sophie schaute sie perplex an. »Äh, ja?«
»Bring mal eins her.«
»Ein Blatt?« Sophies kritischer Tonfall machte klar, was sie von der Idee hielt. »Wolltest du mir nicht gerade noch was erzählen?«
»Ja doch«, seufzte Emily. »Du wirst sehen, dass es damit leichter geht. Zu leicht wahrscheinlich.«
Kopfschüttelnd schritt Sophie zum nächstgelegenen Baum, der noch das eine oder andere sommerliche Grün aufwies.
»Hier, bitte.« Sophie hielt ihr ein besonders großes Ahornblatt entgegen. Es war noch völlig grün. »Und jetzt?«
»Kannst du mir versprechen, weder zu schreien noch wegzurennen? Egal, was passiert?«
Unsicherheit breitete sich auf Sophies Zügen aus. »Ich … ich denke schon. Mann, ich will endlich wissen, was mit dir los ist!«
»Also gut«, sagte Emily leise. Dann nahm sie Sophie das Ahornblatt aus der Hand.
Einen Moment lang passierte gar nichts. Dann passierten zu viele Dinge gleichzeitig.
Der Wind schwoll an, konzentrierte sich dabei aber auf Emily. Er fuhr durch ihre offenen Haare und wirbelte die rundum verstreuten Blätter auf. Emilys Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie wirkte älter und weiser, eher wie eine windumtoste Göttin, die von den Klippen auf die Brandung herabblickt, und nicht wie eine Schülerin.
Das Blatt in Emilys Händen veränderte seine Farbe. Erst wurde es dezent gelblich, dann wandelte es sich in immer kräftigere Rottöne und verkam schließlich zu einem braunen, vertrockneten Etwas.
Emily ließ das Blatt los. Augenblicklich trug der Wind es davon. Als würde er die Ernte einholen, wehte er von Baum zu Baum und befreite jeden in unnachgiebiger Entschlossenheit von seinen sterbenden Blättern. Fassungslos blickte Sophie umher, während unzählige Blätter sanft zu Boden segelten wie ein Regenschauer aus Laub.
Sophie
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