Herbstbringer (German Edition)
derart vielen weiteren Fragen, Problemen und Unklarheiten geführt, dass sie es schlicht und ergreifend satthatte, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Das sollten ruhig andere tun.
Außerdem erzählte ihr Elias augenscheinlich sowieso nur das, was er preisgeben wollte. Und darauf musste sie sich nicht einlassen.
Bis auf Weiteres würde sie sich darauf beschränken, diesen Engeln aus dem Weg zu gehen, kein Blut zu trinken und Glöckchen nicht in die Quere zu kommen. Sie musste trotz allem grinsen, als sie sich vorstellte, wie sie diese drei Überlebensregeln auf einem Zettel notierte:
1. Engeln aus dem Weg gehen
2. Kein Blut trinken
3. Glöckchen meiden
Wenigstens klang es nach einem abenteuerlichen Leben. Die Realität hier in diesem zugenagelten Käfig mit Unterweltanbindung sah aber ganz anders aus.
Seufzend verließ sie das Bad. Auf der Treppe begegnete sie Elias. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Augen, dann blickte er zu Boden und beeilte sich, an ihr vorbeizukommen.
Na wunderbar.
Klagend strich der Wind um das alte Haus. Er schien sie zu sich zu rufen, wollte wieder mit ihr vereint werden. Emily fühlte ähnlich.
Nach dem Duschen hatte sie bei einem weiteren Erkundungsgang festgestellt, dass viele der Türen verschlossen waren, in staubige, leere Zimmer führten oder eine grobe Ziegelsteinmauer zum Vorschein brachten. Hier gab es nichts Spannendes zu entdecken.
An diesem Punkt merkte Emily endgültig, dass sie belogen worden war – von jedem Buch, jedem Märchen, jeder Erzählung und jeder Legende, in denen es um Leute ging, die die wildesten Abenteuer erlebten. Das wirkliche Leben war kein Abenteuer. In keinem ihr bekannten Abenteuer saß man selbst im Eifer des Gefechts tagelang nur herum, fand nur verschlossene oder zugemauerte Türen, wurde nicht eingeweiht oder fühlte sich unentwegt fehl am Platz, lästig und unerwünscht. Und wenn es doch mal Geheimgänge, dramatische Fluchtszenen und üble Schurken gab, bedeutete es allerhöchstens, dass ihr Leben in Gefahr war.
Sollte sie jemals ein Buch schreiben, beschloss sie im Morgengrauen mit grimmiger Bestimmtheit, würde sie ein Abenteuer als das beschreiben, was es wirklich war: total langweilig. Aber ob das jemand lesen würde?
Irgendwann am Morgen kehrten Rufus und Willie zurück. Ihre aufgedrehte Stimmung nicht. Halbherzig begrüßten sie Emily, lungerten eine Weile unentschlossen im Wohnzimmer herum, um sich wenig später ins obere Stockwerk zu verkrümeln. Vorher hatten sie ihr einen zweifelnden, fast enttäuschten Blick zugeworfen, der das angespannte Grundgefühl seit Glöckchens Auftauchen genau wiedergab.
Erwarteten sie etwas von ihr? Waren alle enttäuscht von ihr, weil sie nichts tat, außer hier herumzusitzen und die Stimmung zu ruinieren?
Sie musste weg. Aber wohin? Wahrscheinlich war alles besser, als weiter hier herumzusitzen. Blieb nur das Problem, dass Elias sie ziemlich sicher nicht gehen lassen würde. Sie war eine Gefangene unter dem Deckmantel ihrer persönlichen Sicherheit.
Sie hatte Chaucers mittelalterliche Dichtung zur Hälfte durch, als Elias abrupt aufstand, einen Schritt auf sie zumachte, etwas sagen wollte und dann doch auf dem Absatz herumwirbelte. In der Tür blieb er stehen. »Vertrau mir einfach, okay?«, sagte er tonlos, dann stürmte er aus dem Raum. Das Knallen der Falltür drang ins Wohnzimmer, dann wurde es wieder still.
»Wo geht er hin?«, fragte Emily. »Es ist doch längst hell.«
»Elias kennt viele Wege, um dem Tageslicht aus dem Weg zu gehen«, murmelte Ambrose, ohne von seinem Buch aufzublicken. Nachdem ihn die kurzzeitige Anwesenheit der beiden Schauspieler dazu gezwungen hatte, seine Zeitungstarnung zu aktivieren, hatte er sich wieder einer offensichtlich spannenden Stelle in Beowulf zugewandt.
»Und du? Warum bist du immer nur hier?«
Jetzt blickte er doch auf. »Da draußen gibt es nichts mehr, das mich interessiert. Die Welt ist ein seltsamer Ort geworden. Ah, wieder dieser Blick«, bemerkte er auf ihre fragende Miene hin. »Ich weiß, wie es sich anhören muss. Ich bin doch erst seit ein paar Jahrzehnten das, was ich bin. Hätte Elias mit seinen zahlreichen Jahrhunderten nicht viel eher das Recht auf eine solche Aussage?«
»Nein, so habe ich das nicht gem…« Emily stutzte. »Was? Zahlreiche Jahrhunderte?«
»Aber ja, seine Geschichte reicht mindestens bis ins vierzehnte Jahrhundert zurück. Man munkelt, er habe die Pest nach Europa gebracht. Aber du weißt ja, wie das
Weitere Kostenlose Bücher