Herbstbringer (German Edition)
Mal gewesen.
Die blasse Sonne zeichnete ein fleckiges Muster auf die geschlossene Laubdecke, als sie das Grab erreichte. Noch immer hingen einige Blätter an den Bäumen ringsum und hielten den heftigen Böen überraschenderweise stand.
Als warteten sie auf etwas. Oder jemanden.
Emily hatte fast vergessen, wie schön gefallenes Herbstlaub im Sonnenlicht aussah. Einen Augenblick lang saß sie einfach auf dem Boden neben dem Grabmal und genoss das warme Licht.
Erneut las sie die in Stein gemeißelte erste Strophe des Gedichts, dessen weitere Strophen auf ihrem Gedenkstein und dem Holzsarg verewigt worden waren. All diese Mühe und diese offensichtliche Zuneigung ihrer Mutter wollten nicht in das Bild der erbarmungslosen Vampire passen, das Elias gezeichnet hatte. Oder sah sie nur etwas, das sie sehen wollte?
Sie schlang die Arme um die angezogenen Knie und betrachtete die Engelsstatue auf dem Stein. Für unbeteiligte Betrachter mochten die gebrochenen Flügel der Figur das Resultat altersbedingter Verwitterung sein. Sie wusste es besser.
Ringsum raschelte es. Emily war dankbar dafür, dass sich das Grab in einem eher abgelegenen Teil des Friedhofs befand, an dem allem Anschein nach nur selten jemand vorbeikam. Sie atmete tief durch, bereitete sich auf einen weiteren Sturz in ihre Vergangenheit vor – und legte ihre Hand auf den kalten Stein.
Nichts.
Verwirrt hielt sie inne und versuchte es an einer anderen Stelle, dann an der Figur des gefallenen Engels.
Immer noch nichts.
Sie runzelte die Stirn. Sie hatte keinen Zweifel daran gehabt, dass es funktionieren würde.
Irritiert wischte sie mit der Handfläche über den rauen Stein und beseitigte das frisch gefallene Laub.
Ein kurzer Stich ließ sie zurückzucken.
Fasziniert beobachtete sie, wie aus ihrem rechten Zeigefinger ein kleines Blutströpfchen hervorquoll. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Blut ihr Interesse jemals zuvor so sehr geweckt hatte.
Unnatürlich laut hallte ihr Herzschlag durch ihren Kopf. Elias’ Warnung konnte sich doch wohl kaum auf ihr eigenes Blut bezogen haben. Langsam, wie in Trance, bewegte sie den Finger auf ihren geöffneten Mund zu.
Wie ihr Blut wohl schmeckte?
Ein Impuls, der wie ein tonloser Schrei durch ihren Körper jagte, brachte den Finger wenige Zentimeter vor ihrer Zungenspitze zum Stillstand.
Keuchend atmete sie aus.
Was war das?
Von unsichtbarer Hand geleitet, berührte sie das Grab mit dem verletzten Finger erneut – und schon wurde der Friedhof von einer Welle aus Dunkelheit verschlungen.
Ihr Gesicht fühlte sich an, als wäre es in eine warme und feuchte Decke gewickelt. Ein betörend süßer Duft durchdrang ihr Innerstes und stachelte einen ebenso euphorisierenden wie verzehrenden Hunger an.
Sie wusste, was sie zu tun hatte, um ihm nachzugeben. Sie wusste nur nicht, ob sich dieser Hunger jemals stillen ließ.
Gierig saugte sie an etwas Weichem, das mit jedem Atemzug mehr von der berauschenden Flüssigkeit in ihre Kehle fließen ließ. Süß, köstlich und dickflüssig wie feinster Honig, und dabei so voller Leben, voller Verheißungen und Versprechen.
»Blut ist Leben«, hatte ihr Vater oft gesagt. Zum ersten Mal verstand sie seine Worte.
Sie öffnete ihre Augen erst, als die alles verschlingende Gier ein wenig abgeebbt war. Wie lange sie dem Hunger die Kontrolle überlassen hatte, konnte sie nicht sagen. Zeit war sowieso bedeutungslos.
Die Augen schreckensstarr aufgerissen, rollte ein erschlaffter Frauenkörper reglos auf die Seite. Aus der zerfetzten Kehle sickerte noch immer ein dünnes rotes Rinnsal, das hellblaue Kleid war so sehr von tiefrotem Blut getränkt, dass man es auswringen konnte.
Bei diesem Anblick gehorchten ihre Sinne langsam wieder anderen Befehlen. Sie hob die blutverschmierten Hände vor ihr Gesicht und betrachtete sie, als wären es nicht ihre eigenen. Das Blut um ihren Mund fühlte sich klebrig an und roch urplötzlich gar nicht mehr verlockend.
Auch sie war über und über mit Blut besudelt. Es troff aus ihren Haaren, sammelte sich in ihrem Schoß und sickerte zu ihren Füßen in das nasse Gras.
Was hatte sie getan?
Die Augen der fremden Toten blickten sie in stummer Anklage an. Sie schienen dasselbe zu fragen. Entsetzt wandte sie den Blick ab und nahm ihre Umgebung wieder wahr.
Dämmerung kroch zwischen den Bäumen empor. Wie Finger schlangen sich fahle Nebelschwaden um knorrige Wurzeln und die Büsche am Waldrand.
Da, unter der Kiefer, standen Vater und Mutter.
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