Herbstbringer (German Edition)
ausdruckslos an. »Noch was?«, fragte er dann mit verschränkten Armen.
»Ja.« Emily überspielte den Stich, den seine ablehnende Haltung bewirkte. Von dem anziehenden und freundlichen Vampir, dem sie nach London gefolgt war, fehlte jede Spur. »Zu welcher Familie gehöre ich?«
»Du bist Uriels Spross. Seine Familie ist lange Zeit die mächtigste gewesen, wurde durch deine Rebellion aber in ihren Grundfesten erschüttert.«
Uriels Spross. Sie wusste zu wenig über die Mythologie der Erzengel, um dieser Aussage eine Bedeutung beizumessen. Die Vorstellung, dass ausgerechnet die vier Erzengel zu den Urvätern der Vampire geworden sein sollten, fand sie ziemlich seltsam. Und das nicht nur, weil sie selbst nicht an Gott glaubte.
»Wo sind diese Familien jetzt?«, fragte sie.
»Verstreut«, antwortete Elias lapidar. Er machte sich zunehmend weniger Mühe, seinen Überdruss zu verbergen. Es war offensichtlich, dass er nicht die geringste Lust auf dieses Gespräch hatte. »Nur Michaels Familie ist hier in London ansässig. Er ist es, wegen dem wir uns am meisten sorgen müssen.«
»Ich frage mich, wie wir es mit vier Vampirfamilien gleichzeitig aufnehmen sollen.«
Wut blitzte in Elias’ sonst sehr beherrschten Zügen auf. »Genau diese Frage versuche ich doch die ganze Zeit zu beantworten!«, rief er mit immer lauter werdender Stimme. »Es fällt mir nur schwer, klar zu denken, wenn ich ständig von irgendjemandem unterbrochen werde.«
Was war nur los mit ihm? Sie hatte es sich doch nicht ausgesucht, hier zu sein. »Wenn es zu viel verlangt ist, über einige Dinge aufgeklärt zu werden, kann ich auch gehen.«
Das schien Wirkung zu zeigen. Einen weiteren Moment verweilte der Zorn auf seinen markanten Zügen, dann wurde er von einer raschen Abfolge an Emotionen verscheucht, die in Entsetzen und Bedauern mündeten. Die Bewunderung, die sie bei ihren ersten Begegnungen in seinen Zügen erblickt hatte, war längst verschwunden. Und damit auch seine unschuldige, beruhigende Aura.
»Nein, so habe ich das nicht gemeint«, sagte er schnell. »Es ist nur …«
Emily ließ ihn nicht ausreden. »Dann solltest du dir genauer überlegen, was du andeutest.« Sie stand auf und ging auf ihn zu. »Wenn du mir helfen willst, solltest du mir keinen Vorwurf daraus machen, dass ich Bescheid wissen möchte.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sie Elias stehen.
»Wohin gehst du?«, brachte er hervor, als sie schon an ihm vorbei war.
»Dorthin, wo ich schon vor langer Zeit hätte hingehen sollen«, sagte sie dramatisch. »Unter die Dusche!«
19
Michael betrachtete das Schwert. Es war schön gearbeitet, sah auch nach Jahrhunderten noch aus, als wäre es erst gestern geschmiedet worden. Sein Finger strich über die Klinge. Sie war noch immer scharf. Er dachte an all die Darstellungen, die es von ihm und diesem Schwert gab. Sie waren ausnahmslos falsch, verzerrten die Wirklichkeit wie jede einzelne Niederschrift über seine Taten. Oh, er hatte mit diesem Schwert gerichtet, keine Frage. Es waren nur keine Bestien oder Dämonen gewesen, die er damit zu Fall gebracht hatte.
Das waren noch Zeiten gewesen.
Er verstaute das Schwert wieder neben den seligen Erinnerungen. Michael war beileibe kein Nostalgiker. Die wachsende Nähe zu seinen einstigen Brüdern machte es ihm jedoch unmöglich, nicht in die Vergangenheit abzutauchen. Natürlich war es ganz nach Michaels Geschmack, dass niemand um seine wahre Herkunft wusste. Es würde keinen Unterschied machen, wenn die Welt die Wahrheit wüsste – wie die anderen liebte es aber auch Michael, Geheimnisse zu haben. Liebte es, den verhassten Menschen als jemand anderes gegenüberzutreten.
Es stimmte. Er war einer der vier Erzengel, war mit Gabriel, Raphael und Uriel schon lange vor der Ankunft der ersten Menschen auf der Erde gewesen. Er hatte Zivilisationen kommen und – oftmals mit seiner Hilfe – gehen, hatte Weltreiche fallen und Armeen sterben sehen. Er war der Albtraum ganzer Zeitalter gewesen, der Schatten, Liebe und Freundschaft verdunkelte.
Die Jahrtausende strichen bedeutungslos an ihm und seinen drei Gefährten vorbei. Mehr als genug Zeit, um Gedanken zu verpesten, um Herzen verrotten zu lassen, um Milde, Gnade, Moral und Gerechtigkeit verkümmern zu lassen wie Blumen in dunklen Räumen.
Ihnen hatte die Welt gehört. Der Preis war seine Seele gewesen – Michael war das als guter Preis erschienen. Für viele Zeitalter hatten sie über die Erde geherrscht, vier grausame
Weitere Kostenlose Bücher