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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Björn Springorum
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ältesten noch lebenden Familienmitgliedern. Michael empfand den Zustand vieler einst mächtiger Vampire deswegen nicht als weniger beschämend.
    Er schaffte es doch auch, der Unsterblichkeit zu trotzen und angesichts dieser Bestrafung nicht nach und nach dem Wahnsinn zu verfallen. Man musste kämpfen, musste stark sein, dann konnte einem der Schrecken der Zeit nichts anhaben. Und doch erkannte er bei vielen aus seiner Sippe untrügliche Zeichen der Selbstaufgabe. Hesekiel und Jeremias mochten die schlimmsten Fälle sein. Die einzigen waren es selbst in dieser Runde nicht.
    Michael war es einerlei, ob es seine Schuld war, dass die Würdenträger seit seiner verfügten Alleinherrschaft rapide abbauten. Es zwang sie ja niemand, ihre Tage wie Mumien in einer Pyramide verstreichen zu lassen, leblos, antriebslos und leer in hohen Hallen einstiger Größe vor sich hin zu vegetieren.
    Da half es herzlich wenig, dass sie genau genommen nicht unsterblich waren, sondern lediglich sehr viel langsamer alterten als Menschen. Ließ der Lebenswille nach, machte sich das automatisch körperlich bemerkbar – was nicht bedeutete, dass ein Vampir tatsächlich an Altersschwäche sterben konnte. Zumindest hatte Michael noch nie davon gehört. Und er musste es schließlich wissen. Er war der Älteste seiner Sippe. Alpha und Omega.
    »Nosophoros ist aufgetaucht«, bellte er anstelle einer Begrüßung. Es war ihm noch immer ein Rätsel, wieso er seine Rückkehr nicht gespürt hatte. Er hatte sich darauf verlassen, war fest davon ausgegangen, dass er es sofort fühlen würde, wenn dieser vampirgewordene Pesthauch in der Stadt auftauchte. Ausgerechnet jetzt hatte sein Instinkt versagt. Wer wusste, wie lange sich Nosophoros schon in London aufhielt?
    Zumindest sorgte diese Neuigkeit bei den weniger senilen Ratsmitgliedern für den gewünschten Effekt: Sofort verstummten die Gespräche, und eine angespannte Stille legte sich über den Raum, dessen große Fenster verdunkelt worden waren. Draußen herrschte längst lichter Tag.
    »Was weiß er?«, fragte Isaak, irgendein unbedeutender Sohn irgendeines unbedeutenden Neffen. Michael hatte noch nie viel für die äußeren Linien seines Stammbaums übriggehabt. Für ihn zählte einzig und allein der dicke Stamm. Und selbst bei diesem setzte er gern die Axt an.
    »Genug, um nach London zurückzukommen.« Was für eine blöde Frage. Als würde Nosophoros sein Wissen preisgeben. »Ihr wisst, was sein Kommen bedeutet.« Er stand auf. Wie bei einem missmutigen Feldwebel wanderte sein Blick drohend von Gesicht zu Gesicht. »Wir müssen vorbereitet sein. Es könnte jeden Moment so weit sein. Ich dulde nicht den kleinsten Fehler. Wenn einer von euch den Herbstbringer zu mir bringt, bevor die Wandlung vollzogen ist, wird das denjenigen teuer zu stehen kommen.«
    Hesekiel ließ ein kratziges Murmeln vernehmen. Na toll.
    »Was gibt es, Hesekiel?«, fragte Michael genervt.
    Es vergingen einige Sekunden, in denen sich der Greis hingebungsvoll einer Mischung aus krächzenden Atemgeräuschen und unverständlichem Gemurmel hingab. Dann endlich erklangen mehr oder weniger verständliche Worte. »Der Herbstbringer …«, er quälte sich von Silbe zu Silbe wie ein altersschwacher Athlet beim Hürdenlauf, »… sie … sie hat … uns alle verraten … Sie hat … Schande über uns … gebracht … über uns alle …«
    Michaels Lippen waren ein pfeilgerader Strich. Hesekiel konnte froh sein, dass seine glanzlosen Augen noch immer auf einem Punkt mitten im Nirgendwo ruhten. »Das ist nichts Neues, Hesekiel. Darf ich fort…«
    »Elendes Gör«, keuchte der alte Vampir aufgebracht, bevor Michael den Satz beenden konnte. »W-w-wieso konnte … sie das … Niemand ist … stark genug … um sich … gegen die … Überlegenheit … unserer Art … zu stellen … Und doch … hat sie es … getan … Das ist … nicht richtig, … nicht richtig …« Die letzten Worte wimmerte der völlig entkräftete Greis. Dann sank er leblos in seinem Stuhl zusammen, nicht mehr als ein Häufchen Elend in einem alten, abgewetzten Anzug.
    Michael bedachte ihn mit demselben mitleidlosen Blick, mit dem man ein totes Insekt von der Fensterbank wischt. »War das alles?«, fragte er kühl und richtete seine schlechte Laune wieder auf das versammelte Kollektiv vor ihm. »Ihr wisst, was man ihr nachsagt. Sie ist die letzte geborene Vampirin. Und ihre Mutter überlebte die Niederkunft. Möglich, dass ihre Stärke auf ihre Tochter übergegangen

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