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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Björn Springorum
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fiel ihr ein, irgendwo darüber gelesen zu haben. »Das Jahr ohne Sommer!«
    »Das Jahr ohne Sommer. Genau. Der feuchtkalte Frühling ging direkt in den ungewöhnlich kalten Herbst über. Ich erinnere mich noch, dass es selten richtig hell wurde, es Missernten gab und Nachtfrost im Juli nicht ungewöhnlich war.« Er blieb stehen und schaute sie an. »In diesem Jahr bist du geboren.«
    »Das Jahr ohne Sommer – Herbstbringer«, wiederholte sie murmelnd. War sie damals schon dafür verantwortlich gewesen?
    »Keine Sorge«, beruhigte Elias sie, während sie ihren Weg fortsetzten. »Daran bist du nicht schuld. Sage ich zumindest. Damals war man sich allerdings einig, dass deine Geburt und das Auftreten dieses Phänomens untrennbar miteinander verbunden seien. Viele sahen den ausbleibenden Sommer als Vorgeschmack auf die Rolle, die du wenige Jahre später ja tatsächlich gespielt hast. Ein böses Omen sozusagen. Von Anfang an ruhten aller Augen auf dir, Herbstbringer. Auch, weil Nachwuchs in unserer Welt sehr selten ist. Man hätte eben nur niemals gedacht, dass du dich tatsächlich für diesen Weg entscheiden würdest.«
    »Wenn ich nicht dafür verantwortlich war – wieso folgt mir der Herbst dann mit jedem Schritt?«
    »Nicht so ungeduldig«, rügte er sie spielerisch. »Du musst noch einiges über Vampire lernen, fürchte ich. Wir können es beispielsweise überhaupt nicht leiden, unterbrochen zu werden.« Mit einem sanften Lächeln fuhr er fort: »Dein Aufbegehren war das schlimmste Vergehen seit unserer Zeitrechnung, ein Vergehen, das selbst mit der schlimmsten uns zur Verfügung stehenden Bestrafung nach Ansicht der Familienoberhäupter nicht ausreichend gesühnt werden würde. Deshalb wurdest du verflucht.«
    »Ich wurde verflucht?« Emily machte ein skeptisches Gesicht. »Du meinst, wie im Märchen?«
    »Mal abgesehen davon, dass Märchen meist tatsächliche Begebenheiten zum Inhalt haben: ja, wie im Märchen. Ich weiß, wie sich das für dich anhören muss. Jemanden zu verfluchen klingt irgendwie albern. Aber glaub mir, Emily: Es ist ganz und gar nicht lustig. Du wurdest mit einem ungemein wirkungsvollen Fluch belegt, wie ihn nur die vier Ältesten mit vereinten Kräften aussprechen können.«
    »Und solange dieser Fluch auf mir liegt, wird mir der Herbst nicht von der Seite weichen?«
    »Ich fürchte, ja. Wo immer du auch sein magst – er wird dir auf Schritt und Tritt folgen.«
    Emily dachte an die Laubwesen und das Gefühl von Stärke, das ihr der Herbstwind vor ihrer Flucht aus Woods End verliehen hatte. Wenn sie darüber nachdachte, hatte sie überhaupt nichts dagegen, den Herbst auf ihrer Seite zu wissen.
    »Aber nun erst mal genug davon«, unterbrach Elias ihre Gedanken. »Für den Anfang habe ich dir wohl genug offenbart. Außerdem sind wir da.« Er deutete auf ein gedrungenes, heruntergekommenes Haus an der nächsten Straßenecke. Einige Betrunkene liefen mit müden Augen daran vorüber. Für sie war es offensichtlich Zeit für den Heimweg. »Zeit, etwas Warmes zu trinken.«

    Früher hatte Michael die ältesten Familienmitglieder regelmäßig einberufen und mit ihnen gemeinsam Entscheidungen gefällt, Pläne geschmiedet und über die Ausweitung ihrer Macht nachgedacht. Früher. Längst traf er alle Entscheidungen allein, führte die Familie mit eiserner Hand und skrupelloser Unnachgiebigkeit.
    Heute dachte er nur noch über die Ausweitung seiner Macht nach. Die letzte Versammlung lag entsprechend lange zurück.
    Der Erfolg gab ihm recht: Nach dem Sturz Uriels hatte es keine fünf Jahre gedauert, bis Michael im Kampf um die absolute Macht die Oberhand hatte. Dass er sich bislang nicht dauerhaft hatte durchsetzen können, war ja nicht sein Verschulden.
    Man konnte sich seine Familie eben nicht aussuchen. Das musste er einmal mehr feststellen, als er in die versammelte Runde blickte. Während er in den letzten Jahrhunderten nur unmerklich gealtert war, konnte man mehr als einem Ratsmitglied den körperlichen Verfall mittlerweile überdeutlich ansehen. Jeremias zum Beispiel, der ihm gegenüber an dem langen Holztisch saß und mit matten Augen ausdruckslos auf einen Punkt an der Wand irgendwo hinter Michael starrte. Dabei war er keine fünfhundert Jahre alt! Noch schlimmer war es um Hesekiel bestellt. Das war zwar nichts Neues – immerhin hatte der gekrümmt auf seinem Platz hockende Greis, dessen Haare alten Spinnweben glichen, mehr als tausend Jahre auf dieser Erde zugebracht und gehörte damit zu den

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