Herbstbringer (German Edition)
entscheidenden Jagdtrophäe in einem seit dem viktorianischen Zeitalter schwelenden Bürgerkrieg gemacht hatten.
»Wer mich tötet, kommt also an die Macht?« Emily war selbst erstaunt, wie gefasst und sachlich ihr diese Worte über die Lippen kamen.
Elias nickte langsam. »So ist es.«
»Und wieso willst du das unbedingt verhindern?« Sie hatte nicht beabsichtigt, dass diese Worte so misstrauisch klangen. Sie konnte es sich einfach nicht erklären, weshalb Elias anders denken sollte als all die anderen Vampire. »Entschuldige, ich …«
»Nein, schon in Ordnung«, wiegelte er ab. Doch Emily war der kurzzeitig aufflackernde Schmerz in seinen Augen nicht entgangen. Sie biss sich verärgert auf die Lippen. Sie wollte nicht auch noch den augenscheinlich einzigen Typen vergraulen, der ihr helfen wollte.
»Es ist gut, dass du misstrauisch bist. Sehr gut sogar. Und du kannst mir glauben, wenn ich sage, dass es mir selbst nicht klar ist.« Sein Blick schweifte ab, schien den dämmrigen Himmel über ihnen abzusuchen. »Vielleicht ist es, weil ich dich schon so lange kenne, vielleicht, weil ich davon überzeugt bin, dass du eine solche Strafe nicht verdient hast. Niemand hat das.«
Die letzten Worte hatte er gemurmelt.
Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinanderher.
»Erzähl mir mehr! Warum bin ich so wichtig für alle?«, fragte Emily weiter.
»Ach, Herbstbringer!« Er seufzte. »Keine Gnade für mich, was?«
Mit bedächtigen Worten berichtete Elias, was damals passiert war. Sie erfuhr von ihrer Gefangenschaft, von der Zusammenkunft der vier Familienoberhäupter, um Gericht zu halten; von der Verkündung des denkbar härtesten Urteils; von der gewaltigen Schande, die sie nach Ansicht der Vampire über ihre Familie gebracht hatte, und der unausweichlichen Urteilsvollstreckung, die von ihrem Vater unterstützt worden war und als Exempel dienen sollte. Und natürlich von dem Fluch, der über sie verhängt wurde, der letzten in Eintracht vollbrachten Tat der vier Oberhäupter.
Mit einer Mischung aus Abscheu und Interesse sog sie alles, was Elias von sich gab, gierig in sich auf, ganz gleich, ob ihr übel davon werden würde oder nicht.
Sie konnte regelrecht spüren, wie die Informationen in ihr Bewusstsein flossen, leere Plätze füllten und weitere Erinnerungen freilegten. Elias’ Worte bewegten etwas in ihr, ihr wurde immer klarer, wer sie war und wo sie hingehörte. Sie musste Jake vergessen. Sie musste Woods End vergessen. Nur so konnte sie weitermachen.
Als Elias seinen Bericht beendet hatte, war der Morgen endgültig angebrochen. Ein weiterer feuchtkalter Tag, der frühmorgens ebenso trüb sein würde wie mittags und nachmittags. Als wäre die Zeit urplötzlich bedeutungslos geworden. Und das, stellte Emily fest, entsprach tatsächlich der Wahrheit.
»Aber wieso der Herbst? Wieso Herbstbringer?«, fragte Emily. Es war natürlich nicht die einzige Frage, die ihr unter den Nägeln brannte. Aber es war die, die sie sich bereits seit ihren ersten Entdeckungen stellte.
Elias nickte, als hätte er darauf gewartet. Dieses Thema schien ihm weniger schwerzufallen. »Wann bist du geboren?«, fragte er sie.
»Laut deiner Aussage 1816«, erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen. Dann merkte sie, dass sie sich noch überhaupt keine genauen Gedanken über ihr richtiges Geburtsdatum gemacht hatte. Bislang hatte sie sich damit zufriedengegeben, deutlich älter zu sein, als sie bisher angenommen hatte. »Äh, stimmt das denn wirklich?«
»Ja, das stimmt. Genauer gesagt am 30. August 1816. Herzlichen Glückwunsch nachträglich übrigens, ist ja noch gar nicht so lange her.«
Auch das war eine Neuigkeit, die erst mal verdaut werden wollte. Nach ihrer Adoption hatten die Lancehearts einhellig beschlossen, den Tag ihrer Ankunft in Woods End als Geburtstag ihrer neuen Tochter zu wählen, und sie auch dementsprechend beschenkt.
»Danke?«, sagte sie testweise und stellte dabei fest, dass ihr noch nie zum Geburtstag gratuliert worden war. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern.
»Nichts zu danken. Worauf ich hinauswill, ist aber etwas anderes: Weißt du, unter welchem Namen das Jahr 1816 in die Geschichte eingegangen ist?«
Sie schüttelte den Kopf. Zu gern hätte sie Elias mit geschichtlichem Detailwissen beeindruckt, wurde diesmal aber von ihrem historischen Interesse im Stich gelassen.
»Man nennt es noch immer Achtzehnhunderttotgefroren.«
»Achtzehnhunderttotgefroren?«, murmelte Emily fragend. Dann
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