Herbstfraß
geben wird. Wenn ich mir den armen Ingo so ansehe und an die Säge in der Tüte denke, werde ich schon froh sein, wenn ich gemeinsam mit meinem Arm aus dem Bunker gelange und dieser dazu naturgewachsen an mir dranhängt.
Nachdem Nolte rasch Bos Fesseln überprüft hat, kommt er zu mir zurück. Bevor ich erahnen kann, was er vorhat, klebt er mir die Augen zu.
„Oh nein! Das kann nicht Ihr Ernst sein. Bitte nicht …“ Weiteres Tape bringt mich wirkungsvoll zum Verstummen. Ich höre Nolte dicht neben mir kichern. Es klingt absolut fies. Dabei streift sein Atem meine nackte Haut. Wäre es Bos Atem gewesen, hätte das erotisch sein können. Da ich hingegen weiß, dass es der Nolte ist, der an meiner Seite hockt, empfinde ich das Gefühl lediglich als widerlich. Zur Bewegungslosigkeit verdammt und meiner wichtigsten Sinne beraubt, bin ich wie ein Weihnachtspäckchen verschnürt einem Wahnsinnigen ausgeliefert. Das ist alles andere als beruhigend. Bos wütendes Knurren lässt darauf schließen, dass es ihm nicht besser ergeht und Nolte ihm dieselbe nette Behandlung mit dem Panzertape zukommen lässt.
„Stumm und blind. So gefallen Sie beide mir am besten.“ Nolte lacht. „Ich muss die Herren jetzt leider verlassen. Sie können sich auf morgen freuen. Dann beginnen wir mit dem Spiel.“ Nach dieser aufmunternden Ansage entfernen sich Noltes Schritte. Die Stahltür quietscht schaurig und schlägt dröhnend ins Schloss. Anschließend wird ein Schlüssel umgedreht und es herrscht Stille.
Ich bin fassungslos. Der Arsch lässt mich tatsächlich angeschossen und halb nackt in dieser Schweinekälte in einem Bunker sitzen. Zusammen mit ein paar furchtbar toten und entstellten Leichen und einem gefesselten Freund, der genauso hilflos ist wie ich. Wut quillt in mir hoch, völlig unkontrolliert und nicht zu bremsen. Durch das Tape heule ich meinen Frust raus.
17:23 Uhr
Zitternd sitze ich auf dem kalten Boden und bemühe mich meine Schockstarre zu überwinden. Ein Teil meines Hirns versucht mir hartnäckig einzureden, dass mir das hier gar nicht wirklich passiert und ich bestimmt gleich aufwachen werde. Bevorzugt in Bos warmen, starken Armen. Der andere Teil meines Hirns nervt richtig. Er versucht die Situation zu analysieren und flüstert mir ständig ein Bleib ruhig! zu. Ich will nicht ruhig bleiben. Ich will weiter schreien und zwar aus voller Kehle. Die Lautstärke wird allerdings von dem verdammten Panzertape, das mir effektiv das Mundwerk zuklebt, auf ein Mindestmaß reduziert. Außerdem habe ich inzwischen heftige Halsschmerzen und da ist unsinniges Herumschreien für den Heilungsprozess nicht unbedingt förderlich. Mein Rachen ist unangenehm trocken, und obwohl ich schrecklich friere, läuft mir der Schweiß im Nacken herunter. Dazu kommt das bestürzende Gefühl, dass mir ein breiter Ring die Brust zusammendrückt. Ich muss husten, kann diesen Anfall aber wegen des Tapes nicht herauslassen. Hilflos krümme ich mich zusammen, versuche durch das klebrige Gewebeband zu atmen, bekomme keine Luft mehr … Nackte Panik schnürt mir zusätzlich die Kehle zu. Ich höre mich selbst heftig schnaufen, Tränen sickern unter dem Klebeband hindurch und laufen über meine Wangen. Bestimmt werde ich in Kürze ersticken und mein Gesicht wird genauso blau anlaufen, wie das von Ingo. In meiner Nähe bewegt sich etwas. Wenn ich noch könnte, würde ich vor Entsetzen schreien. Im nächsten Moment spüre ich Bo, der sich neben mich schiebt und sich an meinen ausgekühlten Körper schmiegt. Er versucht trotz seines Knebels etwas zu sagen und instinktiv weiß ich, dass er mich beruhigen möchte. Ich konzentriere mich auf ein regelmäßiges Ein- und Ausatmen durch die Nase und versuche das unangenehme Kratzen in meinem Hals zu ignorieren. Endlich lässt der Hustenkrampf nach. Schlotternd lasse ich mich gegen Bos Brust fallen und gebe mir alle Mühe, dichter an ihn und seine kuschlige Holzfällerjacke heranzurutschen.
„Hmpf“, sagt Bo, was immer das bedeuten soll. Jedenfalls klingt es zärtlich. Auf einmal steigt Scham in mir auf. Die ganze Zeit denke ich bloß an mich und meine Furcht. Dabei muss Bo unsere Gefangenschaft bis ins Mark gehen. Nach allem, was mir Patrick Reinhold über Afghanistan erzählt hat, befinden wir uns gerade in einer ähnlichen Lage.
„Hgnnpft?“, frage ich besorgt und durchforste meine Erinnerungen nach dem Inhalt von Noltes Tüte. Hatte ich auch Elektroschocker gesehen? Ich kann mich lediglich an die
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