Herbstfraß
Säge und die Klammern erinnern, bloß das muss im Moment nichts heißen. Die Säge! Mit einem Ruck richte ich mich auf und strenge alle meine grauen Zellen an, um mich zu orientieren. Befand sich die Tüte rechts oder links von mir? Rechts, ich bin mir relativ sicher. Widerstrebend löse ich mich von Bo und verlasse seine tröstliche Nähe und Wärme. Wie ein Wurm robbe ich an der Wand entlang und hoffe, mich nicht in der Richtung geirrt zu haben und deswegen gleich Kontakt zu einer Leiche aufzunehmen. Mit der Schulter stoße ich schließlich gegen die Campinglampe. Ich hätte jubeln können. Dann muss die Tüte mit dem ganzen Krimskrams direkt daneben sein. Obgleich ich angestrengt im Blindflug suche, ich kann sie nicht finden.
„Hnnnn!“ Nolte muss sie mitgenommen haben. Die Tüte und die darin befindliche Säge. Sie hätte mich von den verflixt fest sitzenden Fesseln befreien können. Ich könnte erneut heulen, so frustriert bin ich in diesem Augenblick. Jetzt hatte ich schon mal eine gute Idee … Irgendwo hinter mir hmpft Bo. Er wird immer lauter. Bestimmt fragt er sich, ob ich eine Dummheit begehe oder mit den Leichen schmuse. Meine Gänsehaut wird zum Reibeisen. Mit einiger Anstrengung wälze ich mich in die Richtung von Bos verzweifelt klingenden Lauten, verfehle ihn knapp und finde lediglich durch sein beharrliches Hmpfen zu ihm zurück. Mein verletzter Arm signalisiert viel zu deutlich, dass er keine weiteren Bewegungen wünscht. Zudem muss eine der Schnittverletzungen wieder aufgebrochen sein, denn ich fühle ein kleines Rinnsal über meinen Hals laufen. Was mich daran erinnert, dass meine Halsschmerzen noch Bestandteil meines Dilemmas sind. Ich kuschel mich auf der Suche nach Wärme an Bo, der seinen Lockenschopf gegen meine Wange presst. Die feinen Härchen kitzeln mich an der Nase. Oh Gott! Was mache ich, wenn ich obendrein einen Schnupfen bekomme? Nach der Husterei und den Halsschmerzen ist die Schnupfennase ohnehin längst überfällig. Falls mich nicht zuerst die Schusswunde umbringt. Vielleicht hat die Kugel doch eine Schlagader erwischt und ich verblute, ohne es zu merken. Mein Arm fühlt sich etwas taub an, denn Nolte hat das Panzertape ziemlich fest um die Verletzung gewickelt. Deutlich spüre ich, wie die Wunde darunter pulsiert, als würde sich der Herzschlag genau an dieser Stelle abspielen. Wenn ich es mir recht überlege, empfinde ich die Schussverletzung zwar als schmerzhaft, wenn auch nicht wirklich als gefährlich. Bloß vor dem Ersticken habe ich tatsächlich Angst. An einer Erkältung möchte ich nicht sterben, nur weil ich wegen eines Schnupfens keine Luft bekomme. Bilde ich es mir ein oder schwellen die Nasenschleimhäute gerade eben an? Sofort beginnt mein Herz wie wild zu schlagen. Schwindel überkommt mich und der Bunker, Bo und die Leichen beginnen sich wie ein Karussell um mich zu drehen. Und dabei kann ich nicht einmal etwas sehen. Ich spüre nur, wie ich jeglichen Halt verliere und es in meinen Ohren zu rauschen beginnt. Ein dumpfes Quietschen dringt unter dem Tape in meinem Gesicht hervor. Ich will raus, muss hier raus! Brauche Luft … Luft … Luft! Dass ich wie ein Irrer an meinen Fesseln reiße und gegen das Tape anbrülle, merke ich erst, als mich der lodernde Schmerz in meinem Arm zur Besinnung bringt. Schweißgebadet und schluchzend sinke ich wie ein nasser Sack in mich zusammen.
„Hnnnssss.“ Das Geräusch dringt allmählich an mein Ohr.
„Hnnnssss.“ Bo. Es ist Bo, der mich zu trösten versucht. Herrje, wie mag mein Ausraster auf ihn gewirkt haben? Das Letzte, was mein Tweety benötigt, ist ein vor Panik kreischender Freund. Seit wann neige ich denn zu solchen hysterischen Anfällen?
Vorsichtig lehne ich mich erneut gegen ihn. Bo seufzt erleichtert auf. Sorry, Tweety, ich reiße mich jetzt zusammen. Versprochen.
Ich bemühe mich, lediglich zu atmen, das Denken auszuschalten und überlebe auf diese Weise wie durch ein Wunder einen neuen Hustenkrampf. Nachdem ich mich etwas gefasst habe, fällt mir auf, wie eisig es ist. Ohne meinen dicken Pulli und die Softshelljacke kühle ich schnell aus. Vom Wetter her war es bereits nicht sonderlich warm, als wir durch den Haakewald gelaufen sind, allerdings würden die Temperaturen in der Nacht weiter absacken. Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass man bereits bei zehn Grad über null erfrieren kann. Oh Mann, ich wäre froh, wenn wir wenigstens zehn Grad hätten. Was würde ich nicht alles für meine warme behagliche
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