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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ich, dass er mich beobachtete und sein Glas noch immer in der Hand hielt. Plötzlich nahm er mir meines aus der Hand, drückte mir seines zwischen die Finger und sagte: »Trink.«
    Da erst begriff ich, dass er dachte, ich hätte ihm etwas ins Glas gegeben. Ich lächelte ihn an, erfasst von einer plötzlichen Heiterkeit, und trank sein Glas in einem Zug leer. Ich schenkte uns nach, wir stießen erneut an und ich trank auch das zweite Glas aus. Der ungewohnte Alkohol – ich trank sonst nie – schoss mir sofort in sämtliche Glieder und Wärme und Leichtigkeit erfüllten mich. Ich sah das Funkeln in seinen Augen, das Begehren und auf einmal war ich mir sicher. Ich würde es schaffen, ich würde die Rolle bis zum Ende durchstehen, und nicht nur das. Ich würde brillieren, mich selbst übertreffen. Und am Ende dieser Nacht stünde die Freiheit.
    Ich forderte ihn auf, Platz zu nehmen, machte die Suppe warm stellte den Braten aufs Feuer, bat ihn, uns schon einmal von dem Rotwein einzugießen und vielleicht eine Schallplatte auszuwählen und sie aufzulegen. Ich spürte, wie sein Misstrauen sich verflüchtigte, wie seine Gesten entspannter wurden, ohne dass er mich jedoch aus den Augen gelassen hätte. Doch was jetzt vor allem in seinem Blick geschrieben stand, war nicht mehr Vorsicht oder Wachsamkeit. Jetzt las ich in ihm nur noch Verlangen. Er ignorierte den Wein, griff stattdessen zu einer Flasche Moët, die ich auf Eis gelegt hatte, und entkorkte sie mit einem Knall. Aus dem Lautsprecher erklang Zarah Leanders dunkle Altstimme, ich reichte ihm die Pasteten, nahm mir selbst davon. Über den Tisch hinweg prosteten wir uns zu, die Champagnerkelche klirrten leise.
    Wir unterhielten uns über dieses und jenes und ich spürte eine Leichtigkeit, die mich selbst in Erstaunen versetzte, mir war fast, als plauderte ich tatsächlich mit einem guten alten Bekannten. Sartorius bediente sich – wie ich erwartet und gehofft hatte, war er nach der langen Reise offenbar hungrig. Die Pasteten waren alle verspeist, als ich die Suppe auftrug und danach den Braten. Beim Hauptgang stand er auf, holte nun doch den Rotwein, schenkte uns beiden ein. Mir entging nicht, dass er wartete, bis ich das erste Glas leer getrunken hatte, bevor auch er davon nippte. Und während ich die Teller und Schüsseln abtrug, fragte ich mich plötzlich mit einer Klarheit, die wie eine Klinge durch meinBewusstsein ritzte, wie es sein konnte, dass er hier einfach so saß und aß und trank und sein Leben ging weiter, während Hanna und mein Paul, mein kleiner Paul, tot waren, von Würmern zerfressen, und all die anderen auch, deren langsames und qualvolles Sterben er dokumentiert hatte. Ich war froh, dass er aufs Dessert verzichtete, denn ich wusste nicht genau, wie viel Zeit noch blieb. Statt des Kaffees tranken wir den Rest aus der Rotweinflasche. Und dann stand ich auf, leicht schwankend, holte die zweite Flasche Moët aus dem Eisfach und nahm die beiden Kelche. An der Tür drehte ich mich um und sagte: »Vielleicht sollten wir uns für den Rest der Nacht oben einrichten«, und ging voran, die Treppe hoch.
    Ich spürte, wie er zögerte, wie das Misstrauen in sein alkoholisiertes Bewusstsein zurückzukehren versuchte. Ich hatte damit gerechnet und stellte, kaum dass ich das Gästeschlafzimmer erreicht hatte, die Gläser und den Champagner ab und begann, die Knöpfe meines Kleides zu öffnen. Meine Bewegungen waren langsam und konzentriert, mir schwirrte der Kopf vom Alkohol, und ich spürte erste Anzeichen von Übelkeit. All dieser Wein, jetzt nur keinen Fehler machen. Durch die geöffnete Tür drang die Musik. Kann denn Liebe Sünde sein, Zarah Leanders Worte begleiteten meine Bewegungen, während ich das Kleid von den Schultern strich, darf denn niemand wissen, wenn man sich küsst, ich hörte ein Geräusch hinter mir, drehte mich um. Da stand er, auf der Schwelle, und beobachtete mich. Waren das schon Schweißperlen auf seiner Stirn? Er wischte sich mit dem Handrücken darüber und begann seine Gürtelschnalle zu lösen, öffnete den Knopf seiner Hose, den Reißverschluss. Die Hose glitt zu Boden, er ließ sich aufs Bett sinken, zog sich das Hemd über den Kopf, das Unterhemd. Und hielt auf einmal in seinen Bewegungen inne. Es war so weit.
    »Ich muss noch einmal kurz ins Bad«, hauchte ich und verließ das Zimmer. Im Hinausgehen wandte ich mich noch einmal kurz zu ihm um und sah, wie er sich auf die Seite drehte, sein nackter Körper schimmerte bleich im Licht

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