Herbstvergessene
Unterlagen abholen … Oder ich kann Sie Ihnen schicken.«
Er rückte ab von mir.
»Wenn du Spielchen mit mir treibst …«
»Ich werde Ihnen die Unterlagen geben, alle, aber bitte lassen Sie mir Lilli.«
Ich ging zu meinem Schreibtisch, kritzelte die Adresse der
Casa dei Glicini
auf ein Blatt und malte eine grobe Wegskizze darunter. Ich schrieb das Datum dazu: den ersten Tag, an dem Gustav auf der Tagung wäre. Ich reichte ihm das Blatt, er griff danach, warf einen Blick darauf und sagte: »Bis bald.« Ich nickte und sah ihm hinterher, wie er zur Tür ging, sie öffnete, mir einen letzten, warnenden Blick zuwarf und verschwand.
Ich setzte mich auf einen Stuhl im Wohnzimmer und sah zum Fenster hinaus. Die Stunden vergingen, und als Lilli vom Kindergarten kam, außer Atem und lachend, mit geröteten Wangen und Zöpfen, aus denen sich ein paar Strähnen gelöst hatten, hatte sie eine Freundin bei sich. Ich hatte vergessen, dass Liselotte heute mitkommen wollte. Ich schickte die beiden in Lillis Zimmer und begann, das Mittagessen zu kochen, setzte Kartoffeln auf, putzte Spinat, deckte den Tisch wie ein Automat, stellte die Teller darauf, legte das Besteck dazu, mechanisch, und die ganze Zeit dachte ich an Sartorius. Er hatte mich gefunden, nach all den Jahren, ich konnte ihm nicht entkommen, er hatte mich in der Hand. Ich saß in der Falle. Der einzige Vorsprung, den ich ihm gegenüber hatte, war die Tatsache, dass er mich für schwach und naiv hielt. Er ahnte nicht, dass ich bereit war, alles zu tun, um mein Kind und mich vor ihm zu schützen, alles. Und dass ich Lilli behalten würde. Um jeden Preis.
Zwei Wochen später brachen Gustav und ich noch vor dem Morgengrauen auf. Lilli hatten wir am Abend zuvor zu Gustavs Mutter gebracht, sie würde die Zeit bis zu unserer Rückkehr bei ihr verbringen. Wir fuhren den ganzen Tag, ich verabschiedete mich von Gustav vor dem Grand Hotel in San Remo, fuhr dann zurück in Richtung Imperia und folgte von dort aus der schmalen, sich windenden Straße nach Ginestro. Als ich spätabends endlich die
Casa dei Glicini
erreichte, war ich wie gerädert. Das Haus rochdumpf und muffig und es herrschte eine Eiseskälte, die in den Mauern saß und sich auch durch das Kaminfeuer nicht vertreiben ließ.
Den Tag zuvor hatte ich fast ausschließlich in der Küche zugebracht. Ich hatte gebraten und gebacken, die Ergebnisse meiner Bemühungen und schließlich auch noch einige erlesene Flaschen Wein aus Gustavs Weinkeller in meinem Fresskorb verstaut. Wenn mein Plan gelingen sollte, musste alles bis ins kleinste Detail vorbereitet sein. Im besten Fall müsste ich mich noch nicht einmal von ihm berühren lassen. Denn davor graute mir am meisten.
In dieser Nacht schlief ich so gut wie gar nicht. Immer wieder ging ich im Geiste den vor mir liegenden Abend durch, vom Moment seines Eintreffens bis zum Ende. Gegen Morgen fiel ich in einen unruhigen Schlaf, der zerquält war von Albträumen, in einer immer wiederkehrenden Abfolge derselben Szenen.
Als ich zu frieren begann, stand ich auf und beschloss, mir erst einmal etwas zu essen zu machen. Eine heiße Minestrone würde mich von innen her wärmen. Ich fing an, das Gemüse zu waschen. Ich musste etwas mit den Händen tun, einfache mechanische Tätigkeiten wie Gemüse putzen und schneiden, in einem Topf rühren und den Tisch decken täten mir jetzt gut. Also hatte sie ihn noch einmal wiedergesehen. Wie in Trance stand ich vor dem Herd und drückte den Zünder. Mit einem kleinen Plopp schossen die Flammen in die Höhe. Und war er gekommen, in die
Casa dei Glicini
, im Frühjahr 1950? Gerade als ich die gehackten Zwiebeln in das zischende Öl gab, hörte ich durch die geschlossene Küchentür das Telefon im Wohnzimmer klingeln. Dass jemand mich hier vermutete, erstaunte mich. Rasch zog ich den Topf vom Feuer, wischte die Hände an der Schürze ab und lief ins Wohnzimmer.
» Casa dei Glicini
«, antwortete ich und wartete.
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
»Pronto!
Casa dei Glicini
. Chi parla?«
Im Raum war es kalt, der Frühling hatte noch nicht genug Kraft, um das Haus zu wärmen, und der Terrazzoboden sorgte noch zusätzlich für Kühle.
»Hallo?«, rief ich nun, doch es antwortete mir nur das Schweigen der Nacht.
Während ich die Minestrone noch einmal umrührte, redete ich mir ein, dass jemand sich verwählt hatte und zu feige oder zu träge gewesen war, um sich zu entschuldigen. Doch ich konnte nicht
Weitere Kostenlose Bücher