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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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umhin, darüber nachzudenken, wie entlegen dieserOrt war. Ich war früher öfter hierhergekommen, gerade um mich in diese Einsamkeit zurückzuziehen und niemanden und nichts zu hören als die Stimmchen der kleinen Vögel und das Rascheln der Blätter im Wind. Doch das war gewesen,
bevor
dies alles passiert war. Ich heizte den Kamin im Wohnzimmer an und schon bald prasselte und knackte ein munteres Feuer, das die düsteren Gedanken einigermaßen vertrieb. Dann zog ich mir einen Winterpullover über, streifte dicke, graue, kratzige Wollsocken über die Füße und machte es mir im Sessel gemütlich, legte meine Füße auf einen gepolsterten Schemel und balancierte den Teller auf dem Schoß. Ich nahm ein paar Bissen, doch der Anflug von Appetit, den ich noch vor einer Stunde verspürt hatte, war mir vergangen und ich schlürfte mechanisch, Löffel für Löffel, gegen die aufkommende Übelkeit an. Ich fühlte mich auf einmal merkwürdig isoliert, und während ich dort so saß, lauschte ich auf jedes Geräusch, das über das Knacken des Feuers hinausging.
    Bald führte ich halblaute Selbstgespräche, in denen ich mich selbst einen Feigling, ein Hasenherz nannte, doch mein Unwohlsein ließ sich auch durch die barschesten Selbstbezichtigungen nicht vertreiben. Ich zwang mich, den Teller leer zu essen, und am Ende war mir wenigstens nicht mehr kalt. Doch nun fühlte ich die Schwärze der Nacht um mich fast körperlich. Vor den Fenstertüren stand die Dunkelheit und sah zu mir herein. Auf einmal wünschte ich mir, mich ins Auto zu setzen und davonzufahren. Dorthin, wo Menschen waren, viele Menschen. Mir ein Hotelzimmer zu nehmen, an einem sicheren Ort, um dort das Ende des Manuskripts zu lesen. In einer Umgebung, in der ich das Gefühl hätte, nicht der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Ich stand auf, dimmte das Licht, stellte mich an eines der Fenster und sah eine Weile hinaus. Allmählich trennten sich die schwarzen Hügel im Hintergrund von dem dunkelgrauen Horizont. Ich ließ meinen Blick über das Tal gleiten. Es war kein einziges Licht zu sehen.
    Doch. Ganz in der Ferne sah ich zwei zuckende Lichter, wahrscheinlich die Scheinwerfer eines Wagens, der durch die Nacht mäanderte, nach rechts, nach links, sich durch die Einsamkeit an den Hügeln entlangtastete. Der Anblick war aus irgendeinem Grund tröstlich und ich fühlte mich gleich ein bisschen weniger allein. Ich beobachtete den Wagen, der langsam näher kam, sich dann hinter einem Hügelvorsprung verlor, sodass ich zwar noch ein gedämpftes Motorengeräusch vernahm, ihn aber nicht mehr sehen konnte. Einen Augenblick lang bildete ich mir ein, der Fahrer habe die Abzweigung zur
Casa dei Glicini
eingeschlagen, doch als ich ein Fenster öffnete, um zu lauschen, war alles still und die Nacht hüllte mich ein. Ich zuckte bewusst burschikos mit den Schultern und begann die Küche aufzuräumen, scheppernd, laut und lärmend, begleitet vom unruhigen Gejippel eines italienischen Radiosenders. Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken als an die verstörenden Aufzeichnungen meiner Großmutter. Und noch viel weniger wollte ich daran denken, dass es gut zehn Minuten zu Fuß bis zum nächsten Nachbarn waren, der – wenn sich nichts geändert hatte – sowieso nur im August dort lebte. Um mich her war ein Meer aus Wald und jeder Ruf würde sich in der Stille der Nacht verlieren, ungehört.
    Ich lenkte meine Gedanken auf die Zeit, die ich hier in den Schulferien verbracht hatte, mit Charlotte, nur sie und ich. Unsere Streifzüge durch die Wälder, unsere Abendspaziergänge zu dem kleinen Kirchlein oberhalb, dessen Türen nun für immer verschlossen waren und in dem kein Gottesdienst mehr abgehalten wurde. Der Platz vor der Kirche war von Platanen bestanden, ein Mäuerchen umgab das Gelände, auf das wir uns im späten Sonnenschein setzten und zusahen, wie die Schatten länger wurden, um schließlich ganz mit dem Abend zu verschmelzen. Und irgendwann begann die Glocke eines anderen Kirchturms zu schlagen und läutete durch die Stille und Oma wurde nie müde zu sagen: Was ist das doch für ein gesegneter Ort. Und dann lächelte sie ihr trauriges Lächelnund erhob sich und wir gingen zurück zum Haus, vorbei an verwilderten Obstgärten mit Feigen und Mispelbäumen, und lauschten auf das Rascheln der kleinen Tiere im Gras und auf die Rufe der Fledermäuse, die langsam erwachten, um durch Abend und Nacht zu segeln.
    Als Kind fürchtete ich mich oft in der Nacht und rief nach ihr.

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