Herbstvergessene
der Nachttischlampe. Leise schloss ich die Tür hinter mir und sperrte sie ab. Am Vormittaghatte ich – mit großer Mühe, weil sich das Zimmer im ersten Stock befand – die Läden von außen mit Brettern vernagelt. Das Einzige, was es jetzt noch zu tun gab, war, den Wäscheschrank, der oben im Treppenhaus stand, vor die Zimmertür zu rücken. Dann galt es nur noch zu warten.
Ich schlüpfte in eine warme Hose aus Cord und streifte mir zwei Pullover über den Kopf. Ich drehte die Musik so laut, wie es ging,
darf denn niemand wissen, wenn man sich küsst
, räumte den Tisch ab,
wenn man einmal alles vergisst vor Glück,
legte noch ein paar Scheite in die Glut,
niemals werde ich bereuen, was ich tat und was aus Liebe geschah
, dann drang ein Stampfen, ein Krachen durch die Melodie,
das müsst ihr mir schon verzeihen, dafür ist sie ja da
, und ich presste mir die Hände auf die Ohren, so fest ich konnte.
Die Herbstzeitlose hat viele Namen, Herbstvergessene ist nur einer unter ihnen, mir aber der liebste. Er hat so einen traurigblassen Klang, ganz so wie die Pflanze selbst. Ich fand sie schon immer eigenartig, diese rosa Blüten auf ihren dünnen Stängeln, die so aussehen, als bekämen sie zu wenig Licht, und ich habe mich oft gefragt, ob sie den Herbst vergessen haben oder der Herbst sie. Wie verblichen wirkt diese Pflanze, unscheinbar und auf merkwürdige Weise antizyklisch. Sie blüht, wenn alles andere vergeht. Ihr Gift ist stark und heimtückisch, man sagt, es habe Ähnlichkeit mit Arsen. Es hat schon manchem, der im Frühjahr loszog, um Bärlauch zu sammeln, den Tod gebracht. Seltsamerweise wirkt das Gift in gekochter Form noch viel stärker. Die ersten Symptome der Vergiftung beginnen nach zwei bis sechs Stunden. Mit Schluckbeschwerden, mit Kratzen und Brennen in Mund und Rachen. Es folgen Erbrechen und Krämpfe, ein blutiger Durchfall. Die Körpertemperatur sinkt, der Blutdruck auch. Nach ein bis zwei Tagen kommt der Tod. Und bis zum Schluss ist der Mensch bei vollem Bewusstsein.
Ich wartete zwei Tage, bis ich den Schrank beiseiteschob und durchs Schlüsselloch spähte. Die Nachttischlampe im Gästezimmerbrannte nicht mehr, doch sonst war nichts zu sehen, sosehr ich mich auch bemühte.
Aber was, wenn er gar nicht tot wäre, wenn das Gift aus irgendeinem Grund bei ihm keine Wirkung gezeigt hatte? Was, wenn ich selbst die Herbstzeitlose mit Bärlauch verwechselt hatte? Was, wenn ich die Tür aufschloss und er mich ansprang, von der Seite, wie ein wildes Tier? Ich setzte mich vor die Tür und lauschte, wohl eine ganze Stunde lang, vielleicht auch länger. Als ich endlich sicher sagen konnte, dass nichts zu hören war, drehte ich ganz leise den Schlüssel herum und öffnete die Tür.
Heinrich Sartorius lag auf dem Boden, zwischen Bett und Fenster, nackt, zusammengekrümmt, still. Im Zimmer stank es nach Erbrochenem und Kot. Langsam ging ich auf ihn zu. Immer damit rechnend, dass er aufspringen und sich auf mich stürzen würde, ein Rasender. Es fiel mir schwer zu glauben, dass er dieses eine Mal schwächer gewesen war. Ich beugte mich über ihn. Sein Gesicht war verzerrt und lag in einer Lache aus getrocknetem Schleim. Seine Hände waren Klauen, an seinen Fingern klebte getrocknetes Blut. Die Augen starrten ins nirgendwo.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das Zimmer in einem verheerenden Zustand war. Er musste versucht haben, die Tür zu öffnen, und als ihm dies nicht gelang, auch die Fenster. Er musste mit der Nachttischlampe dagegengeschlagen haben, in wilder Raserei, denn überall lagen kleine Splitter des porzellanenen Fußes. Wie ich gehofft hatte, war die Leichenstarre bereits vorüber. Ich drehte ihn auf den Rücken und begann, ihm die Sachen anzuziehen, abgerissene Kleider, die Gustav für Arbeiten am Haus verwendete. Ich hatte darauf geachtet, nur Sachen mit italienischem Etikett zu nehmen. Man sollte ihn für einen Einheimischen halten. Vielleicht für einen Obdachlosen. Jemanden, den niemand vermisste. Natürlich waren die Kleider ihm zu groß. Doch ich hatte damit gerechnet und schnürte ihm die Hose mit einem alten Bademantelgürtel so fest, wie es eben ging. Die ganze Zeit atmete ich so flach ich konnte. Das Schwerste aber war, ihn vom oberen Stock ins Auto zu befördern. Unter Aufbietung all meiner Körperkraft gelanges mir schließlich, ihn Stück für Stück nach unten zu ziehen, durch die Diele, über die Schwelle, bis zum Wagen. Der Schweiß brach mir aus, ich keuchte, nein,
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