Herbstwald
Charon die Seelen in der griechischen Mythologie über den Styx fährt, der in der buddhistischen Variante Sanzu heißt. Jizō ist aber auch Schutzgott der Kinder, insbesondere für Kinder, die vor ihren Eltern sterben müssen.«
»Ich verstehe. Deshalb ist Ihnen diese Erzählung auch im Zusammenhang mit unseren Ermittlungen eingefallen.«
»Es gibt ja gewisse Parallelen. Aber bei Ihrem Fall geht es hoffentlich nicht um die Studentin, die mich weiterempfohlen hatte.« Das Lächeln verschwand schlagartig aus ihrem Gesicht, als sie bemerkte, wie Davídsson mit ernster Miene schwieg.
Als D avídsson am nächsten Morgen in den Besprechungsraum in der Fuggerei kam, warteten Hofbauer und Schedl bereits auf die beiden Kriminalanalysten. Lilian Landhäuser kam kurz nach D avídsson. Ihre Haare waren zum ersten Mal nicht in der gewohnten Ordnung und es sah so aus, als hätte sie in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Vermutlich gab sie sich die Schuld für die misslungene Idee mit der medienwirksamen Beerdigung, die sie in ihren Ermittlungen tatsächlich keinen Schritt weitergebracht hatte.
Allen war anzumerken, dass sie es mittlerweile für so gut wie aussichtslos hielten, den Fall aufzuklären. Die Beerdigung auf dem Perlacher Forst war wie eine Art Schlussstrich für sie. Ohne Leiche keine Mordermittlung – dieser Gedanke waberte unausgesprochen über ihren Köpfen.
Ólafur Davídsson ergriff daher als Erster das Wort, hielt sich aber nicht mit langen Erklärungen darüber auf, warum er nicht mit ihnen nach Augsburg zurückgekehrt war, sondern sich am Friedhof in München von ihnen getrennt hatte. Stattdessen erzählte er ihnen in groben Zügen, was er über die Zusammenhänge zwischen dem Opfer und der japanischen Mafia erfahren hatte und wie Catharina Aigner in Wirklichkeit hieß.
Er teilte ihnen auch mit, was er über die Ermittlungen erfahren hatte, die schließlich zur Verurteilung von Tsuyoshi Saitô geführt hatten, und welche Schlüsse sich daraus seiner Meinung nach ergaben.
Ólafur Davídsson erzählte ihnen jedoch noch nichts über die möglichen Parallelen zur japanischen Geschichte der Heike, weil er sich selbst noch nicht ganz darüber im Klaren war, wie er diese Informationen einzuordnen hatte.
Als er geendet hatte, sahen sie sich eine ganze Weile schweigend in die Augen, bevor Lilian Landhäuser ihren Stift zur Seite legte und etwas sagte: »Die Tochter des bayerischen Innenministers war also an der Aufklärung eines Mafiaprozesses beteiligt und sollte hier in der Fuggerei einen sicheren Unterschlupf finden, den es aber offensichtlich hier nicht gab?«
»So könnte man es verkürzt zusammenfassen«, bestätigte Davídsson.
»Demnach muss es also ein Informationsleck geben, das wir finden müssen. Irgendwie muss die Information über ihre neue Identität an diesen Japaner gelangt sein.«
»Wenn der Japaner tatsächlich der Mörder ist«, gab Hofbauer zu bedenken.
»Vielleicht gibt uns die Plastiktüte einen Hinweis«, überlegte Davídsson.
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Mörder die Plastiktüte, die er seinem Opfer nach einem Mord über den Kopf stülpen will, aus dem 9.000 Kilometer entfernten Japan mitbringt«, sagte Hofbauer.
Schedl grinste. »Ein Koffer voller Plastiktüten würde beim Zoll sicherlich komisch aussehen.«
»Unser Kriminaltechnisches Institut hat eine ziemlich große Materialdatenbank. Vielleicht kann man den Ursprungsort im Labor auch aus der Zusammensetzung des Kunststoffes ermitteln.« Auch wenn Davídsson keine großen Hoffnungen mit diesen Untersuchungen verknüpfte, wollte er nichts unversucht lassen.
»Ich werde die Spurensicherung bitten, die Plastiktüte ins BKA zu schicken«, sagte Hofbauer.
»Andere Hinweise haben wir bei unseren Ermittlungen ja nicht gefunden. Wenn man es rückwirkend betrachtet, ergibt das Ganze nur so einen Sinn. Die abrasierten Haare sind dann womöglich tatsächlich eine Form der Bestrafung.« Landhäuser blätterte in ihrem Block auf die Seite zurück, auf der sie das Wort ›Strafe‹ vermerkt hatte.
Die Vermutung war damals von ihr gekommen, erinnerte sich Davídsson. Jetzt umrahmte sie das Wort mit dicken schwarzen Balken.
»Das muss ich noch überprüfen. Ich schlage vor, dass wir noch zwei weitere Dinge unternehmen. Einerseits sollten wir diesem Tsuyoshi Saitô einen Besuch im Gefängnis abstatten und uns die Besucherlisten zeigen lassen. Dabei sollten wir uns auch gleich über den Inhalt seiner
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