Herbstwald
ein alkoholfreies Bier. Als er das Tablett in den Händen hielt, suchte er einen Platz und fand ihn schließlich neben einer Großfamilie, die sich lautstark in Flämisch unterhielt. Die Eltern hatten ihren Kindern offenbar völlig überteuertes Spielzeug gekauft, das jetzt neben dem Essen ausgepackt werden musste und zu Streit unter den Kindern führte.
Davídsson versuchte ruhig zu bleiben, obwohl er am liebsten laut brüllend für Ruhe gesorgt hätte.
Stattdessen streiften seine Augen auf der Suche nach einem ruhigeren Platz durch das Restaurant. Aber alle Stühle waren belegt. Genervt schob er den Teller beiseite und verließ das Lokal.
Bevor er sich wieder ins Auto setzte, um die Fahrt fortzusetzen, wählte er Ragnas Nummer. Aus irgendeinem Grund glaubte er, dass er jetzt in der richtigen Stimmung dazu war, mit ihr zu sprechen.
»Ich habe über euer Angebot nachgedacht«, sagte er, nachdem sich Ragna gemeldet hatte. Erst jetzt sah er, dass es mit der eingerechneten Zeitverschiebung in Reykjavík schon kurz nach acht Uhr war und eigentlich niemand mehr im Büro des Polizeikommandeurs arbeiten sollte.
»Jaaa?«
»Ich bleibe in Deutschland.«
»Darf ich dich nach dem Grund deiner Entscheidung fragen?«
»Ich bin wie eines dieser Islandpferde. Es ist einfach zu lange her, dass ich zu Hause war, und vermutlich brauche ich auch noch eine ganze Weile, bis ich so viel Abstand gewonnen habe, dass ich wieder dorthin zurückkehren möchte.«
»Im Alter zieht es die meisten Isländer Richtung Sonne. Dann ist es vielleicht zu spät für lange dunkle Polarnächte und Wolken aus Vulkanasche.«
»Ich glaube, ich bin da anders. Die Sonne hat mich noch nie gereizt.«
»Ich werde dem Ríkislögreglustjóri ausrichten, dass er später an dich denken soll.«
»Gut. Mach’ das.«
Ólafur Davídsson setzte sich wieder in den Chrysler und startete den Motor. Er wollte eigentlich über seine Kindheit in Siglufjörður nachdenken, um sich selbst für seine Entscheidung zu bestätigen, aber die Gedanken an den Fall in Augsburg waren stärker.
Sie setzten sich durch.
Zum ersten Mal hatte er sich gewaltig getäuscht.
Er hatte sich in eine Idee verrannt, ohne dass er wusste, wann er alle anderen Optionen vor seinem inneren Auge ausgeblendet hatte. Als Kriminalanalyst war es gefährlich, sich zu sehr auf eine Person zu konzentrieren.
Das Profil sollte so lange kein Gesicht haben, bis der Beweis erbracht war, dass beides zusammengehörte.
Er nahm das Telefongespräch völlig automatisch an, ohne es zu bemerken. Die Unzufriedenheit über seinen Fehler fesselte ihn, bis Lilian Landhäuser sich ein zweites Mal meldete und sich dabei laut räusperte.
»Entschuldigung. Ich musste mich gerade auf die Straße konzentrieren«, log Davídsson. In Wirklichkeit war ihm in der letzten halben Stunde nur ein einziges Auto entgegengekommen und auf seiner Fahrbahn war er beinahe genauso lange alleine.
»Ich habe eben einen Anruf von Kriminalkommissar Schedl erhalten. Sie haben wohl gerade telefoniert, als er es bei Ihnen probiert hat.«
»Ja.« Er hörte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ihre Stimme war weniger aufgekratzt als sonst. Sie klang jetzt beinahe tonlos.
»Er hatte eine unangenehme Nachricht für uns.«
Davídsson drosselte das Tempo und wechselte auf die rechte Spur. Plötzlich fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner Haut.
»Hofbauer ist tot in seinem Büro aufgefunden worden. Es sieht alles nach einem Selbstmord aus, aber die Ermittlungen sind natürlich noch nicht abgeschlossen …«
Ólafur Davídsson trat auf die Bremse, als müsste er einen Auffahrunfall verhindern. Als der Wagen endlich stand, verließ er ihn und kletterte über die Leitplanke.
Er merkte, wie sich alles in ihm zusammenzog.
Wie in Trance ging er ein paar Schritte über einen Feldweg, der zufällig direkt hinter der Böschung lag.
Die kühle Winterluft machte es ihm leichter, tief durchzuatmen, aber sein Kopf wollte nicht klar werden. Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet.
Etwas war zu Ende gegangen.
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