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Hering mit Heiligenschein

Hering mit Heiligenschein

Titel: Hering mit Heiligenschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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Tannennadelsirup. Die Luft, die ich einatme, ist zäh und dickflüssig. Der Stuhl, auf dem ich Platz nehme, hätte auch ein fliegender Teppich sein können; mit meiner Bodenhaftung steht es nicht mehr zum Besten.
    Lächelnd lasse ich mich von kleinen Mädchen und Jungs umarmen, drücke winzige Händchen, streiche über Lockenköpfe, bekomme Geheimnisse erzählt und überreiche ein buntes Päckchen nach dem anderen. Als nur noch ein einziges Paket im Korb liegt, führt Moritz selbst das letzte Kind an der Hand zu mir. Das Mädchen ist vielleicht vier, fünf Jahre alt, hat zwei blonde Zöpfe und große blaue Augen, aus denen es mich aufmerksam betrachtet.
    »Und, Wilma«, höre ich Moritz’ Stimme, »ist das Christkind so, wie du es dir vorgestellt hast?«
    Wilma kichert, beugt sich zu Moritz, der neben ihr in die Hocke gegangen ist, und flüstert ihm etwas ins Ohr. Er nickt ernst, sieht mich an und wiederholt leise die Worte des Kindes:
    »Viel schöner.«
    Für gewöhnlich bin ich nicht nahe am Wasser gebaut, aber auf einmal schwirrt mir der Kopf, und Feuchtigkeit sammelt sich in meinen Augenwinkeln. Schnell greife ich in den Korb, krame extra lang nach dem Päckchen und reiche es Wilma, die es mir andächtig aus den Händen nimmt. Ein wenig erinnert sie mich an ein anderes kleines Mädchen, das noch auf den Klang von Silberglöckchen wartet. Mit ihren winzigen Kinderarmen umarmt sie mich kurz, sieht mich für einige Sekunden furchtbar ernst an und sagt dann, ehe sie wieder zu ihrer wartenden Kinderdorftante läuft:
    »Schön, dass es dich gibt, Christkind. Vergiss mich bloß nicht bis nächstes Jahr!«
    Der Schock ist so heftig, dass ich sekundenlang das Atmen vergesse. Meine Hände zittern und meine Stimme ist nur ein Flüstern, als ich Moritz wie eine Ertrinkende ansehe und frage: »Wie spät ist es?«
    Moritz sieht auf die Uhr und antwortet: »Neun vorbei. Die Kinder sollten längst auf dem Heimweg sein. Eigentlich wollte ich – Was hast du? Was ist mit dir? Åsa?«
    »Luft«, hauche ich, »ich brauche Luft, ich muss kurz – etwas erledigen, ich ... komme wieder!«
    Mit diesen Worten schlüpfe ich aus den Pumps, um schneller laufen zu können, und durchquere den Festsaal so christkindhaft wie möglich. Erst draußen in der Halle beginne ich, unter den pikierten Blicken der Damen, zu rennen. Zwei Stufen auf einmal nehmend, springe ich die Festtreppe hinauf, steige in den Lift und drücke den obersten Knopf.
    Zum Glück ist meine Suite leer. Ich krame in meiner Handtasche nach dem Objekt, das ich gesucht habe, fische das mit dem Logo des Hotels Imperial bedruckte Streichholzheft aus einem edlen silbernen Schüsselchen, öffne die Balkontür und trete hinaus in die frische, eisige Dezemberluft. Die Aussicht hier oben ist phantastisch. Direkt vor mir liegt die beleuchtete hellgrüne Kuppel der Karlskirche, unter mir das Dach des Musikvereins, durch das sogar leise Musik zu hören ist, irgendeine Symphonie. Doch für die Sehenswürdigkeiten der nächtlichen Wiener Skyline habe ich momentan keinen Blick übrig. Denn wenn mir nicht schnellstens etwas einfällt, wird in drei Stunden mein bescheuerter Weihnachtswunsch in Kraft treten und alles, die kleine Wilma, Moritz, das Gefühl in meinem Bauch, wird vergessen sein. Ich, denke ich traurig, werde vergessen sein.
    Zum Glück ist es windstill. Mit zitternden Händen setze ich den Papierengel mit dem Verlagslogo, den wahrscheinlich letzten seiner Art, auf das Balkongeländer, reiße ein Streichholz vom Heftchen ab und zünde es an, während ich ununterbrochen »Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche« murmle. Unter meinem flehentlichen Blick geht der Papierengel in Flammen auf. Ich schließe die Augen, balle die Hände zu Fäusten und versuche, mir mit aller Kraft die Fee herbeizuwünschen. Das Wunschwellenprinzip muss einfach eine Ausnahme machen. In mein verhasstes Leben ist heute endlich eine Perspektive getreten. Eine Perspektive und ein Paar wunderschöne grüne Augen. Wie kann ich zulassen, dass morgen früh keine Spur davon zurückbleibt?
    Als nichts geschieht, blinzle ich und starre betrübt auf das Häufchen Asche, das einmal ein Papierengel war. Ich puste es Richtung Karlskirche und vergrabe das Gesicht in den Händen.
    Ach, verdammt! Mein Leben war zwar vor vierundzwanzig Stunden nicht schön oder erfüllt, doch wenigstens unkompliziert. Ich habe Turnschuhe statt Goldpumps getragen, und meine größte Sorge war, ob Tobias Andreka seinen Abgabetermin

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