Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
vermochte. Anders stand es um die
Eltern des Dichters. Sie mußten sich erst assimilieren. Das indische
Gepräge der Gunderts, die »wie die Zigeuner aussehend« aus
Malabar zurückgekommen waren, und das baltische, adelige Wesen
des Vaters Hesse, der sich in eine mitunter recht ungenierte, wohl
auch verständnislose Umgebung versetzt sah –, all dies separierte
die Familie, hob sie von der schwäbischen Allzu-Natürlichkeit ab,
brachte ihr das Anderssein nicht immer in der annehmlichsten Weise
zu Bewußtsein.
Auch in theologischen Stücken, nicht nur in der Lebensart, gab es
trennende Unterschiede. Man bekannte sich innig zur Gnade und zur
Gefühlsfrömmigkeit; aber es gab doch gelegentlich Differenzen, mit
der Orthodoxie sowohl wie mit den Schwärmern. Es war ein
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weitgereister, erfahrener, ein durch die Laugen der modernen Kritik
und des Seewassers gegangener Glaube, dem man anhing. Man
wußte, daß sich die Christen von Milet und Tyrus gar nichts daraus
gemacht hatten, auf dem Ufersand niederzuknien und zu beten. Man
wußte aber auch, daß vom Pietismus im engeren, historischen Sinn
unsereinen etwas trennen muß. »So trennt mich«, schrieb der alte
Gundert, »auch etwas von Luther, von Augustin usw. Denn ich würde
Wechselbälge nicht in die Elbe werfen heißen, noch könnte ich mich
an den milanischen Märtyrer-Reliquien erbauen. Ebenso ist mir auch
das Hallesche Wesen etwas zu kurz geraten, und Methodismus,
Darbysmus, und wie die neueren Formen alle heißen, sprechen mich
nicht als den Ihrigen an.«
Hesses Eltern ordnen sich in der ersten Zeit ihres Calwer
Aufenthaltes dem berühmten Großvater in allen Stücken und
besonders in Glaubenssachen unter. Die Mutter des Dichters spricht
in ihren Tagebüchern bei weitem mehr von ihrem überaus verehrten
und geliebten Vater als von Jonny, ihrem Gatten. Als dieser in den
Arbeiten für ein Kirchenlexikon völlig aufgeht, konstatiert sie nur ihre
Befriedigung, daß Johannes, der demütige Gehilfe ihres Vaters, das
kann. In ihren eigenen literarischen Arbeiten empfindet sie sich
ebenso als geistige Tochter ihres Vaters, wie sie den Gatten als
dessen geistigen Sohn empfinden mag.
Auch Johannes Hesse und seine Frau gehörten, wenn auch nur für
kurze Zeit, zum indischen Kreuzzugsfähnlein der Basler Mission.
Noch ist der Brief erhalten, mit dem Johannes Hesse sich bewerbend
an das Basler Komitee wandte. »Ich heiße Johannes Hesse, bin
achtzehn Jahre alt und Primaner der Ritter- und Domschule in Reval.
Vor zwei Jahren entschloß ich mich zum Studium der Theologie, weil
ich in dieser Wissenschaft die beste Lösung für Kopf und Herz, die
beste und nützlichste Art des Lebensberufes zu finden glaubte.
Allmählich aber bekam ich eine Sehnsucht danach, dem Herrn auch
praktisch zu dienen; ihm, dessen Dienst- und Lehensmann ich bin,
nun auch mit dem Heerbann zu folgen.« Es ist ein verspäteter
Ordensritter, der hier wirbt; und er sieht sich nach einer
Gemeinschaft um, nicht weil sein Ich zu schwach, sondern weil es
ihm »längst zu stark geworden« ist. Er sehnt sich nach einem
großen, heiligen Zweck, in dessen Dienst sein Einzelleben
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untergehen könne; denn »bis jetzt war ich mir Selbstzweck
gewesen«. Man beachte wohl: so schreibt ein Achtzehnjähriger! Er
schreibt, als stünde er bereits vor seinem Lebensende. Er schreibt
wie ein bejahrter Mann mit jenem vorwegnehmenden Wissen, das
auch in den Erstlingsbüchern seines Sohnes mitunter überrascht.
Am Missionshaus bleibt Johannes Hesse vier Jahre, erst als Zögling,
dann als Privatsekretär des Direktors Josenhans, dessen Lebensbild
er später geschrieben hat. Dem indischen Klima aber vermag er nur
drei Jahre standzuhalten. Kopf- und dysenterieleidend kehrt er 1873
in die russische Heimat zurück; Josenhans beordert ihn indessen als
Helfer zu Dr. Gundert nach Calw, wo er elf Jahre lang das Basler
Missionsmagazin redigiert. Das Haus des Indologen wird ihm bald zur
zweiten Heimat. Dort findet er 1874 auch seine Lebensgefährtin, die
ihm als verwitwete Isenberg zwei bereits erwachsene Söhne mit in
die Ehe bringt. Anfänglich wohnte man am Marktplatz in
altertümlicher Umgebung (in diesem Hause ist der Dichter geboren),
dann in einem Schullokal, zuletzt im Hause des von Pearsall Smith
und seinem Kreise gegründeten »Verlagsvereins«.
Unterbrochen wurde die Calwer Zeit durch einen fünfjährigen
Aufenthalt in Basel. Vom dritten bis zu seinem neunten
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