Hermann Hesse Sein Leben und sein Werk
deutsche Erinnerungen. Die
Geschichte des Tübinger Stifts vollends ist ein gut Teil der deutschen
Geistesgeschichte. Hier, im Schwabenlande, vereinigt sich das mit
Jubel begrüßte Zinzendorfische Ideal der Erneuerung mit den Ideen
der Romantik und fördert eine Gesinnung, die vom offiziellen
Protestantismus mitunter weiter entfernt scheint als von Rom; eine
Bewegung, die recht eigentlich danach aussieht, als wolle sie den
alten Zwiespalt, den die Reformation mitbrachte, auf halbem Wege
poetisch verbrücken.
Die Pietisten haben den mystisch versunkenen Luther wieder
entdeckt, der über den Religionshändeln und über dem fürstlichen
Aufkläricht fast war vergessen worden. Menschen, die Brüder und
Heilige wollen sein oder werden, leitet ein Enthusiasmus, der, in wie
kindlichen Formen er immer sich äußern mag, mit aller Ewigkeit im
Bunde steht. Im Baltenland und in Schwaben trug die
Erweckungsbewegung die tiefsten, sehr häufig asketische Züge. Das
Königtum Christi wird hier verkündet, lange bevor es von Rom in
aller Form zum Weltfeste erhoben ward. Der Heerbann Christi, die
Hingabe an sein Reich, der Einzug ins himmlische Jerusalem –: all
dies sind Vokabeln aus typisch pietistischem Wortschatz; Vokabeln,
14
die niemand sanftmütiger ergriffen hat als die verachteten
Stundenbrüder.
Auch die evangelische Heidenmission ist ihr Werk; Schwaben hat
große Verdienste daran. Die indischen, chinesischen und japanischen
Studien erweisen noch heute den alten Zusammenhang. Gelehrte
wie Hauer in Tübingen, den Übersetzer Richard Wilhelm oder den
Shintologen W. Gundert in Japan, dem Hesse als seinem Vetter den
zweiten Teil des »Siddhartha« gewidmet hat, kann man als Beispiele
nennen. Die Jesuiten waren um Jahrhunderte früher am Werk, und
Namen wie Franz Xaver oder Taten wie die Propaganda fide wurden
von England und Deutschland nicht überboten. Aber die evangelische
Mission, die mit der Erweckungsbewegung beginnt, ist philologisch
ganz anders interessiert. Die Text- und Systemkritik, die poetische
Kraft der Übersetzung sind ein Vermächtnis der Reformatoren. Die
Männer aus dieser Schule treten an alle die fremden Kulte viel
unbehinderter, freier heran. Freilich hatten sie auch ganz anders
erschütternde und verwirrende Seelenkämpfe mit Sufilehrern,
Brahmanen und Hindupriestern zu bestehen. Diese Bewegung
bemächtigte sich aber der tausend heidnischen Tempel, Götter und
Untergötter, durchdrang sie und führte zu einer Vielfalt der Kenntnis,
die den romantischen Aufwand weit hinter sich läßt.
15
Die Kindheit
Hermann Hesse ist das jugendliche Volkslied, in unendlicher
Variation. Er ist ohne das Volkslied nicht zu denken; es singt sich gut
beim Lesen seiner Bücher. Und doch ist er mehr als das Volkslied; er
ist dessen Hintergrund, dessen Höhe und Tiefe, dessen Geheimnis
und Interpret. Einmal heißt das Thema »Am Brunnen vor dem Tore«,
dann »Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus«, dann »Guten Morgen,
Spielmann, wo bleibst du so lang?«, und so fort, die ganzen
deutschen Liederbücher durch, bis zum geistlichen Lied, zur Kantate
und zur Passion. Die zugrundeliegende Melodie ist oft kaum mehr zu
erkennen; die Modulationen und Arabesken, die Koloratur und der
Kontrapunkt verbergen die Grundmelodie. Bald ist man an Schuberts
und Hugo Wolfs kristallene Bäche und schimmernde Horizonte
erinnert, bald an Chopins schluchzende Feste; dann ist zuletzt auch
noch Mozart da, der die Stimmen energisch zusammenrafft. Immer
aber liegt das Volkslied zugrunde, das deutsche, und später wohl
auch das italienische. Wer diesen Dichter ehren will, der mag ihm
Lieder singen, wie sie vom Muttermunde, auf der Schulbank und
beim Wandern zu lernen und zu singen sind.
Hermann Hesse ist der letzte Ritter aus dem glanzvollen Zuge der
Romantik. Er verteidigt die Nachhut. Wird er sich plötzlich umdrehen,
dieser Ritter, und eine neue Front aufbieten? Wer weiß es. Er ist der
letzte aus der ungebrochenen Linie des Jean Paul, mit dem ihn die
Liebe zu allen Sternen, zu Schmetterlingen und Papageien, zu
leuchtenden Paradiesen und eingesponnenen Sonderlingen, zu allen
Aventüren der Freundschaft und der nervösen Herzensergüsse
verbindet. Er ist der fromme, graziöse und auch der belastete
Romantiker aus der Schule der Brentano und Hölderlin. Er grüßt die
Sternbalde, Schlemihle und Taugenichtse. All deren wehmütige und
lustige Tonfälle trägt er im Blut; all ihre
Weitere Kostenlose Bücher