Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?
jetzt?, fragen sie alle. Eine Dissertation in Philosophie oder Finanzwissenschaft vielleicht? Nein, ich will mich weder mit dem Doktortitel noch mit dem Windsorknoten schmücken. Stattdessen erzähle ich ihnen von der Idee, die mich seit einiger Zeit beschäftigt, von einer Geschichte, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht, seit ich einen Dokumentarfilm über den Bruder von Hermann Göring gesehen habe
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: Göring, diese Personifikation des Terrorregimes, hieß es da, hatte einen Bruder, der Widerstand leistete.
Die Vorstellung, jenes Monster, das wir aus dem Geschichtsunterricht kannten, hätte einen Oskar Schindler zum Bruder gehabt, schien mir geradezu unglaublich. Ein kurzer Besuch in der Stadtteilbibliothek, ein längerer in der Bibliothek meiner Universität und eine Konsultation der allwissenden Suchmaschine Google hatten wenig zutage befördert, das die Geschichte hätte bestätigen oder widerlegen können. Da musste doch mehr zu finden sein! War es denn möglich, dass die Leistungen eines Mannes durchdie Persönlichkeit seines Bruders vollkommen ausgelöscht wurden? Der Name Göring wurde plötzlich so vielschichtig, dass ich an der Geschichtsschreibung zu zweifeln begann.
Einen Monat nach jener Abschlussfeier buchte ich ein Around-the-World-Ticket und verließ Sydney mit einem klaren Ziel vor Augen, jedoch ohne zu wissen, wie ich es erreichen sollte. Von außen betrachtet, sah alles nach einem typischen Backpacker-Abenteuertrip aus oder wie die pubertäre Weigerung, erwachsen zu werden. Doch ich hatte eine Mission: Ich wollte endlich die Spekulationen und Gerüchte von den Fakten trennen, bis Alberts wahre Geschichte zutage trat.
Und diese Mission beginnt hier, in den US National Archives, mit diesen fünf eselsohrigen Papierbögen in meiner Hand. Ich sitze in dem klinisch sauberen Lesesaal zwischen Tweedsakko- und Schnurrbartträgern und versuche mich in Albert hineinzuversetzen, der sie vor so vielen Jahren in seiner Zelle beschrieben hat. Ich frage mich, warum er aus den Hunderten von ihm geretteten Menschen gerade diese Namen wählte. Der Habsburger Erzherzog Joseph Ferdinand ist an zwölfter Stelle dabei und der glücklose österreichische Kanzler Dr. Kurt von Schuschnigg als Nummer siebenundzwanzig. Es sind alles Prominente, wird mir klar, Menschen, die man leicht finden und befragen kann, selbst heute noch.
In dem Moment beginne ich die Liste der Geretteten als Landkarte zu begreifen: als hätte Albert die gesamte Geschichte seiner Kriegsjahre in kondensierter Form in diese vierunddreißig Namen gelegt, als wäre die Liste ein Koordinatensystem. Meine Reise ins Ungewisse bekommt auf einmal eine Richtung. Die angestaubten Aktenstapel und papierenen Spuren, die ein Mensch hinterlässt, sind nur tote Überbleibsel. Doch diese Liste ist weit mehr als Papier. In ihr melden sich die Menschen zu Wort, die Albert Görings lebendiges Andenken wahren. Ihre Stimmen, das weiß ich jetzt, werden auf dieser Reise mein Kompass sein.
2. Nimmerland
Von meinem Fenster blicke ich auf den Schwarzwald, den gerade dichter Nebel in eine märchenhafte Aura hüllt. Hier könnte jederzeit ein kleines Mädchen mit leuchtend roter Kappe vom Weg abkommen, und eine Prinzessin, weiß wie Schnee, könnte mit ihren kleinwüchsigen Verehrern hinter dem nächsten Hügel leben. Es ist das Reich der Brüder Grimm und seit neuestem mein Zuhause. Hier möchte ich meine Suche nach der wahren Geschichte der Göring-Brüder beginnen.
Ich lebe in einer Wohngemeinschaft in Wiehre, einem besonders pittoresken Viertel der Bilderbuchstadt Freiburg, nahe der französischen und der Schweizer Grenze. Wenn ich will, kann ich in Deutschland frühstücken, in der Schweiz zu Mittag essen und pünktlich zum Abendessen in Frankreich sein. Die Stadt ist eine Art Nimmerland für Hippies, Ökos, Punks, studentische Aktivisten in Palitüchern und allerhand Sonderlinge, die von der rauen Realität um sie herum nichts wissen wollen. Hier ist ihr Refugium, in dem sie sich selig treiben lassen und die Schlechtigkeiten und Verbindlichkeiten der Erwachsenenwelt getrost vergessen können.
Als ich beschloss, in diese altehrwürdige Universitätsstadt zu ziehen, malte ich mir aus, dass ich in ein geistiges Milieu eintauchen würde, aus dem der nächste Friedrich Nietzsche hervorgehen könnte, der nächste Günter Grass oder Karl Marx. Aber bis auf die andere Sprache und die Verbindungsfeten habe ich hier dieselbe bierselige Kumpanei vorgefunden wie in meiner
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