Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?
Reihenhäusern und kleinen Lädchen hindurch und parken vor der Dorfkirche, derselben, die von Epenstein mit seiner riesigen Entourage – darunter auch Albert und Hermann – jeden Sonntag überfüllte. Da auch heute Sonntag ist, haben in diesem kleinen Dorf fast alle Läden zu.Einer der wenigen Menschen, die sich blicken lassen, eine alte Dame mit traditionell geflochtenen Zöpfen und einem langen Pelzmantel, nennt uns einen Gasthof, der geöffnet sein könnte.
»Grüß Gott!«, ruft uns die Wirtin des besagten Gasthofs entgegen, dieselben Worte, mit denen Albert gute Freunde, aber auch wenig begeisterte NSDAP-Mitglieder begrüßte. Doch dem freundlichen Empfang folgt eine niederschmetternde Auskunft: Die Küche öffnet erst in einer Stunde. Wir sind kurz davor, alles aufzugeben und nach Hause zu fahren.
Hermann Göring hasste die Enge muffiger Klassenzimmer und kam mit der Schule und ihren Autoritäten alles andere als gut zurecht. Kein Wunder, waren doch die einzigen Herren, die er anerkannte, sein geliebter Pate, Mutter Natur und, nicht zuletzt, er selbst. Rückblickend, als Erwachsener, soll Göring sich prächtig darüber amüsiert haben, dass er, der allmächtige Reichsmarschall, einmal den Rohrstock zu spüren bekommen hatte. 25
Er begann seine Ausbildung an der Volksschule in Fürth, zugleich der Auftakt für eine lange Serie von Rauswürfen und immer neuen Schulen. In Fürth blieb er nur einige Wutanfälle lang, bis seine Eltern gezwungen waren, einen Privatlehrer zu engagieren. Da er dennoch rebellisch blieb, beschloss man, ihn dem strengen Reglement eines Internats zu überantworten. Mit elf Jahren wurde er in Ansbach in einem solchen untergebracht.
Die neue Umgebung missfiel Hermann von Anfang an. Der trostlose Fraß in der Schulkantine beleidigte den von seinem Paten erlernten raffinierten Geschmack des Jungen so sehr, dass er sogar eine Revolte anzettelte. Als diese kläglich scheiterte, ergriff er die Flucht. Es heißt, er hätte sein Bettzeug vorausschicken lassen, seine Geige verkauft, um die Bahnfahrkarte zu finanzieren, und sei dann unangekündigtzu Hause aufgetaucht. 26 Doch von dort wurde er trotz aller Proteste sofort zurück an die Schule geschickt.
Die einzigen Lichtblicke seiner Jahre im Internat waren die Sommerferien auf Burg Mauterndorf. Die Wälder und Berge rings um die Burg waren für Hermann die wahre Schule des Lebens, in der er die Größe von Mutter Natur und das Ringen mit ihr erlernte. Doch immer, wenn die Tage wieder kürzer und die Nächte kälter wurden, musste er in das verhasste Internat zurück. Besonders wenig mochte er das Fach Musik und das Geigenspiel, das er statt des von seinen Eltern favorisierten Klaviers erlernen musste. Lange trug er eine gärende Wut auf die Schule im Allgemeinen und Streichinstrumente im Besonderen mit sich herum, bis es zur Entladung kam.
Eines Tages wurde den Schülern aufgetragen, einen Aufsatz über ihre größten Helden zu schreiben. Während die meisten den Kaiser oder Bismarck zum Thema wählten, schrieb Hermann über den einzigen Menschen, den er wirklich bewunderte, seinen Paten Hermann von Epenstein. Prompt wurde er zum Direktor zitiert und dafür abgemahnt, dass er sich lobend über einen Juden geäußert hatte. Der Name von Epenstein war im »Semi-Gotha« verzeichnet, einem Nachschlagewerk, das Adelsfamilien mit jüdischen Vorfahren auflistete und das der Schuldirektor offensichtlich regelmäßig konsultierte. Hermann musste zur Strafe hundert Mal den Satz niederschreiben: »Ich soll keine Aufsätze zur Verherrlichung von Juden schreiben.« 27
Doch das war gar nichts im Vergleich zu dem, was seine Mitschüler sich einfallen ließen. Sie fielen über Hermann her und trieben ihn mit einem Schild um den Hals über den Schulhof, auf dem stand: »Mein Pate ist Jude.« Diese Aussage, sein Pate sei Jude, hatte Hermann noch nie gehört und sollte sie nie akzeptieren. Am Tag nach dieser Demütigung floh er wieder aus Ansbach, nicht ohne seinenHelden gerächt zu haben, indem er alle Saiten der Streichinstrumente des Schulorchesters durchtrennte. 28
Dieses Lehrstück über den Antisemitismus trug allerdings nicht dazu bei, Hermann Göring moralisch zu festigen. Jahre später wurde er als zweitmächtigster Mann im Dritten Reich zum Mitwisser und zum Beteiligten an den antisemitischen Gewaltakten seines eigenen Apparats. Sein Bruder Albert dagegen, dem eine derart brutale Kindheitserfahrung erspart blieb, sollte als Erwachsener in
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