Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?
seinen Lebenswandel genau und hatte von ihm gefordert, seinem Junggesellendasein abzuschwören, also auch seine Affäre mit Fanny zu beenden. Als von Epenstein dies seiner langjährigen Geliebten mitteilte, kam deren Gatte Heinrich hereingeplatzt und klagte über den Verrat, den die beiden seit Jahren an ihm begingen. Sein Wutausbruch mündete in den Entschluss, nicht länger im Haus eines Ehebrechers und Verräters bleiben zu wollen.
Noch im selben Frühjahr verließ die in ihren Grundfesten erschütterte Familie Göring die Burg Veldenstein und zog nach München in ein bescheidenes Haus. 33 Der ehemalige Reichskommissar, ein körperlich wie seelisch zerrütteterMann, trat am 7. Dezember seine letzte Reise an. Erst nach Heinrichs Tod, als sie seinen Nachlass sichteten, erkannten die Brüder, wer ihr Vater wirklich gewesen war. In den Papieren fanden sie nicht den senilen Trunkenbold ihrer Kindheit vor, sondern einen Mann, der sich in zwei Kriegen und als Kolonialbeamter um seine Heimat verdient gemacht hatte. So kam es, dass sie beide am Rande des Familiengrabs auf dem Waldfriedhof in München ein Gefühl der Schuld und der Reue bedrückte. Hermann Göring, so heißt es, war so sehr davon überwältigt, dass er trotz seiner militärisch-preußischen Selbstdisziplin eine Träne vergoss. 34
Dann begann der Krieg …
Unsere Mägen verlangen nach Schnitzel, unsere schmerzenden Köpfe nach einem Bett. Wir haben für heute genug Niederlagen eingesteckt und beschließen, zum Auto zurückzugehen. Auf dem Weg entdecken wir gegenüber der Kirche ein kleines geöffnetes Café. Es heißt Café Claudio und ist voller Familien und Paare in Sonntagskleidern, die offenbar gerade bei der Messe waren. Beim Eintreten grüßen sie einhellig mit einer Wendung, die ich nicht kenne, die aber wohl die regionale Entsprechung zu »Guten Abend« sein muss. Wir lassen uns ganz am Ende des Raums erschöpft in einer Nische auf die lederbespannten Bänke fallen.
Als ich mich umsehe, fällt mir eine Gruppe gutgekleideter älterer Menschen auf. Die Frauen tragen teuren Schmuck und dazu passende smaragdgrüne Halstücher. Ein Mann mit schütterem grauem Haar trägt offenbar traditionelle Lundgauer Tracht: eine hellgraue Wolljacke ohne Kragen und ein Trachtenband um den Hals. Er scheint das Reden lieber den Frauen zu überlassen und beschäftigt sich stattdessen mit seinem Glas Rotwein und einer Käseplatte.
Irgendetwas an diesem Mann kommt mir bekannt vor. Es ist seine Siebziger-Jahre-Brille mit Drahtgestell, fällt mir auf. Diese Brille habe ich schon einmal gesehen. Ich krame inmeinem Gedächtnis, bis ich die Brille einem Mann zuordnen kann, den ich in einer Dokumentation über Albert Göring gesehen habe, Herbert Hohensinn, einem Bewohner dieser Region, der in dem Film seine Erinnerungen an die Görings in Mauterndorf zum Besten gegeben hat. Wie schnell das Blatt sich doch wenden kann. Eben noch wollten wir mit eingezogenen Schwänzen heimwärts fliehen, und jetzt sitzen wir einem entscheidenden Zeitzeugen gegenüber, der nur wenige Meter entfernt an seinem Rotwein nippt.
»Hallo, guten Abend. Es tut mir leid, zu stören«, begrüße ich den Mann. Ich stelle mich ihm vor und erkundige mich, ob er tatsächlich der Mann aus dem Dokumentarfilm sei. Ja, ist er, und er beginnt auch gleich ein wenig von den Görings und ihrem Gönner von Epenstein zu erzählen. Er spricht Hochdeutsch, nur manchmal mit Einsprengseln aus seinem Lundgauer Dialekt. Wie alle anderen erklärt er gleich vorneweg, über Albert wisse er leider nicht allzu viel. Doch was er weiß, reicht schon dafür, dass ich ihn gern mit Hilfe meines Diktiergeräts etwas ausführlicher interviewen würde. Er zögert, bis seine Frau sich schließlich dazwischenschaltet: »Gewiss doch, wir wohnen ja gleich gegenüber. Kommen Sie einfach in einer guten Stunde dort vorbei.«
Im August 1914, nachdem ein Mann im drolligen Federhut und seine Frau in Sarajevo ermordet worden waren, nachdem ein Bündnis bekräftigt, ein Ultimatum gestellt und ignoriert, ein Blankoscheck des Kaisers Wilhelm II. an den Kaiser Franz Joseph überbracht worden war, wurde Hermanns liebstes Kinderspiel zur blutigen Realität. Schon Stunden nach der deutschen Kriegserklärung an Frankreich bekam der 21-jährige Leutnant in Mülhausen, an der schwer befestigten Grenze in Elsass-Lothringen, Kriegshandlungen zu sehen. Allerdings nicht lange, denn ein Täuschungsmanöver im Rahmen des Schlieffenplans sah vor, dass
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