Hermanns Bruder - wer war Albert Göring?
Wien einer alten Frau ein ganz ähnlich beschmiertes Schild abnehmen, das ihr Hermanns Braunhemden umgehängt hatten.
6*
Nach diesem letzten schulischen Desaster blieb Hermanns Eltern und seinem Patenonkel nichts mehr übrig, als die Armee zu Hilfe zu rufen. Zivilisten waren offensichtlich nicht in der Lage, Hermanns widerspenstiges Naturell zu bändigen. Nur ein Träger jener Uniform, die schon Österreich-Ungarn und Frankreich das Fürchten gelehrt hatte, konnte ihm offenbar etwas entgegensetzen. Also ließ von Epenstein seine Beziehungen spielen, zahlte das Schulgeld und besorgte Hermann einen Platz in der Kadettenanstalt in Karlsruhe.
In ein militärisches Internat gesteckt zu werden war für Hermann Göring, der schon seit frühester Kindheit alles liebte, was mit dem Militär zusammenhing, das Allergrößte. Schon als kleiner Junge hatte er Stunden damit zugebracht, in Khakihosen und Tropenhut die Burenkriege nachzuspielen. König Boris III. von Bulgarien vertraute er später an, er habe bei diesen Kinderzimmerkämpfen zuweilen einen Spiegel eingesetzt, um seine Truppenstärke zu verdoppeln. 29 Es drängt sich die Frage auf, ob Göring als Oberkommandierender der Luftwaffe angesichts des Nachschubmangels in den letzten Kriegsjahren seinen alten Kinderzimmerspiegel wieder hervorholte, wenn er Hitler vom Zustand seiner Truppen Bericht erstattete.
Jedenfalls blühte Hermann in seiner neuen Umgebung regelrecht auf. In der Abschlussbemerkung zu seinem herausragenden Zeugnis hieß es: »Göring war ein vorbildlicher Schüler. Er hat Eigenschaften entwickelt, mit denen er es zu etwas bringen wird. Er scheut sich nicht, ein Risiko einzugehen.« 30 Mit diesem Abschluss war es ein Leichtes, einen Platz an der renommierten Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde bei Berlin zu bekommen, einer Eliteschmiede des deutschen Militärs.
Diese Ausbildung schloss Hermann mit
magna cum laude
in den meisten Fächern ab und bestand im Dezember 1913 das Offiziersexamen. Im Januar 1914 erhielt er einen Adjutantenposten im Infanterieregiment Nr. 112 »Prinz Wilhelm« in Mülhausen an der damaligen deutschfranzösischen Grenze. 31
Sehr viel später, in seiner Gefängniszelle in Nürnberg, sprach Hermann Göring mit dem amerikanischen Psychiater Leon Goldensohn über die Charakterunterschiede zwischen ihm selbst und seinem Bruder Albert: »Er war stets das genaue Gegenteil von mir. Er interessierte sich nicht für Politik oder das Militär; ich schon. Er war still, zurückgezogen; ich liebe Menschenansammlungen und die Geselligkeit. Er war schwermütig und pessimistisch, ich bin ein Optimist. Aber er ist kein schlechter Kerl, dieser Albert.« 32 In mancherlei Hinsicht scheint diese Beschreibung zumindest für den Schüler Albert recht passend zu sein.
Albert Göring erfüllte die Anforderungen, welche die Lehrer an ihn stellten, übertraf sie aber nur selten. Er galt als fleißiger, in einigen Fächern als sehr guter und, anders als sein Bruder, als gehorsamer Schüler. Am liebsten saß er in der hinteren Bankreihe und träumte vor sich hin, vielleicht von den Opern- und Theateraufführungen, zu denen ihn sein Patenonkel gelegentlich mitnahm. Bei diesen Ausflügen entwickelte er eine bleibende Leidenschaft für Musik undbildende Kunst. Er selbst war besonders im musikalischen Bereich begabt und spielte Klavier und andere Instrumente auf beachtlichem Niveau.
Dieser etwas verschrobene, kunstsinnige, unauffällige Schüler verbrachte seine ersten Schuljahre nicht wie sein Bruder in angesehenen Internaten und Militärschulen, sondern mit dem einfachen Volk in der Volksschule in Velden und dem Progymnasium von Hersbruck. Mit elf Jahren stand er vor der Frage, die sich deutschen Schulkindern so ähnlich auch heute noch stellt: der Wahl zwischen dem klassischen Bildungskanon eines Gymnasiums und dem praxisnäheren Curriculum einer Realschule. Albert entschied sich für Letzteres und tauchte 1906 am Realgymnasium in München in die Welt der Physik und der Mechanik ein. Wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erwarb er dort sein Abitur.
Im Jahr 1913, als sich Albert auf seine Abiturprüfungen vorbereitete und Hermann sich auf sein Offiziersexamen, stattete der inzwischen 62-jährige Hermann von Epenstein ihren Eltern einen Besuch auf Burg Veldenstein ab. Er erklärte Heinrich und Fanny Göring, er habe sich in ein junges Fräulein verliebt – vierzig Jahre jünger als er – und werde bald heiraten. Seine Verlobte Lilli kannte
Weitere Kostenlose Bücher