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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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„Warten Sie ein paar Tage“, rieten sie ihr, „Ihr Mann wird bestimmt wieder auftauchen.“ Sie fuhr eine Wache nach der anderen ab, erhielt auf ihre Nachfragen aber überall fast dieselbe Antwort. Auf einer Station war man sogar so gefühllos, ihr zu raten, ihren Mann im Leichenschauhaus zu suchen. Doch auch dort hatte sie keinen Erfolg.
    Anfangs unternahm Vinjinia ihre Suche im Stillen und gab sich Mühe, unnötige öffentliche Aufmerksamkeit zu vermeiden. Bald aber wandte sie sich an die Presse. Ein Herausgeber erklärte ihr, das Verschwinden eines Erwachsenen sei keine Nachricht, mit der er etwas anfangen könne. Ein anderer hatte Mitleid mit ihr und erklärte ihr die Gründe.
    Verschwinden aus politischen Gründen sei nichts Ungewöhnliches, ebenso wenig, dass die Machthaber bestritten, etwas damit zu tun zu haben oder davon zu wissen, selbst wenn Verwandte und Freunde schworen, ihre Lieben seien in Polizeifahrzeugen abtransportiert worden. Allerdings, fügte er mit einem Lächeln hinzu, seien die aburĩrischen Männer dafür berüchtigt, mehrere Haushalte zu führen: den einen ganz offiziell, die anderen im Verborgenen.
    Als Nächstes versuchte sie es bei Tajirikas Freunden, aber keiner wollte etwas mit dem Fall zu tun haben. Zunächst hörten sie sie mitfühlend an, aber sobald ihnen dämmerte, dass die Regierung darin verwickelt sein könnte, bekamen sie es mit der Angst zu tun. Einige gingen sogar so weit, sie zu bitten, nicht mehr anzurufen.
    Man riet ihr, einen Rechtsanwalt einzuschalten und Antrag auf Haftprüfung zu stellen, doch keiner wollte den Fall übernehmen. Die unterschiedlichsten Gründe wurden vorgeschoben. „Sie verschwenden Ihr Geld“, besaß ein Rechtsanwalt die Ehrlichkeit zu sagen. „Wir werden in Aburĩria von den persönlichen Launen Einzelner regiert.“ Aber wer macht, während der Herrscher in Amerika ist, neue Gesetze, nach denen man nachts Leute entführt?, fragte sie sich.
    Sie wandte sich mit der Bitte um Hilfe und moralische Unterstützung an die Kirche und ihre christlichen Freunde, die aber hatten nur Gebete zu bieten. Einige gaben ihr durch ihre Körpersprache zu verstehen, dass Vinjinia bei ihnen zu Hause und bei ihren gesellschaftlichen Veranstaltungen nicht willkommen war.
    Eines Tages parkte sie ihren Mercedes am Straßenrand, stieg aus, setzte sich auf eine kleine Anhöhe und weinte. Alle – die Regierung, ihre Freunde und ihre christlichen Brüder und Schwestern – schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Sie begann die Wahrheiten wie Gerechtigkeit der Regierung und Solidarität unter den Gläubigen, die ihr immer absolut erschienen waren, in Frage zu stellen. An wen sollte sie sich jetzt wenden?
    Mitten in ihren Tränen und zahllosen Fragen dachte Vinjinia plötzlich an den Herrn der Krähen.

12
    Eines Morgens machte sich Vinjinia in aller Frühe auf den Weg, stellte wie bei ihrem ersten Besuch den Wagen an der Straße ab und ging die letzten Meter zum alten Schrein zu Fuß. Dort fand sie eine Wegbeschreibung zu dem neuen Gebäudekomplex mit Holz- und Steinwänden und einem Blechdach, der um einiges sauberer war als die vielen staatlich geführten Kliniken und Krankenhäuser, die sie unlängst aufgesucht hatte. Ein Mitarbeiter führte sie in ein Zimmer im Inneren, und nachdem man sie dort eine Ewigkeit hatte warten lassen, vernahm sie plötzlich das Geräusch eines sich öffnenden Fensters, in dem sich ein Gesicht zeigte.
    „Ich möchte den Herrn der Krähen sprechen“, sagte Vinjinia.
    „Dieser Wunsch wurde dir erfüllt“, antwortete eine Stimme, und Vinjinia war überrascht, eine Frauenstimme zu hören.
    „Als ich zuletzt hier war, hatte er die Stimme eines Mannes.“
    „Ich habe viele Gesichter. Ich spreche mit vielen Stimmen. Was führt dich heute zu mir?“
    Vinjinia zögerte. Doch dann öffneten sich plötzlich die Schleusen ihres Schmerzes und sie erzählte von ihren Problemen bei der Suche nach ihrem verschwundenen Ehemann. Als sie mit ihrer Geschichte fertig war, fühlte sie sich besser, als hätte allein die Tatsache, dass der Herr der Krähen ihr zuhörte, die Last von ihr genommen, die sie ganz allein zu tragen gehabt hatte.
    „Könnte er sich nicht in den gleichen Händen befinden, in denen du dich vor nicht allzu langer Zeit befunden hast?“, fragte Nyawĩra und erinnerte sich plötzlich an ihr ungläubiges Staunen, als sie im Wald die Nachricht von Vinjinias Gefangennahme erreicht hatte.
    Vinjinia fiel fast vom Stuhl. Wie konnte der

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