Herr der Krähen
Ahnung, wovon die Frau sprach. Kaniũrũ gab einigen Polizisten ein Zeichen, sie fortzuschaffen. Vinjinia schrie. Längst machten die Pressefotografen ihre Aufnahmen. Sikiokuu erkannte, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte, und befahl den Polizisten, die Frau in Ruhe zu lassen. Kaniũrũ kochte vor Wut, denn dies war nicht das dramatische Ereignis, das er der Presse versprochen hatte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Vinjinia schrie und verlangte zu wissen, ob ihr Mann noch am Leben sei. Wenn er tot sei, sollten die Oberen sie zu seinem Grab führen. Verzweifelt wandte sich Kaniũrũ an die Tänzerinnen und wies sie an, mit der Vorführung zu beginnen.
Als reagierte sie auf Kaniũrũs flehentliche Bitte, stimmte eine der Frauen ein Lied an, das die anderen mit kreisenden Hüften und Handbewegungen, die sie mit rhythmischen Grunzlauten unterstützten, begleiteten.
Als ich herkam, dem Besucher Lob zu singen
wusste ich nicht, dass dies Haus keinen Frieden kennt
In einem Haus ohne Frieden mag ich nicht singen
weil mein Lied zur Kakophonie werden könnte
und meine Stimme sich in meiner Kehle verliert
obwohl du mich tanzen siehst
Ich habe Mann und Kinder, für die ich zu sorgen habe
Ich will nicht, dass die Kinder den Vater verlieren
denn ein Heim besteht aus Vater, Mutter und Kind
Als er den Text hörte, begriff Sikiokuu sofort, dass er etwas Drastisches unternehmen musste, sonst würde die Situation eskalieren und ebenso schmachvoll enden wie in Eldares. Wie würde der Herrscher reagieren, wenn ihn die Nachricht in Amerika erreichte? Er erhob sich und bat die Frauen, das Singen einzustellen, denn er habe den Medien etwas mitzuteilen.
Er sei gekommen, begann er, um offiziell diese zwei wichtigen Regierungsbüros zu eröffnen und um eine Erklärung abzugeben. Eigentlich habe er vorgehabt, das, was er zu sagen habe, erst am Ende der Zeremonie mitzuteilen, doch weil er natürlich vom Redaktionsschluss der Presse wisse, wolle er es besser gleich erledigen. Auf keinen Fall wolle er riskieren, dass einige Reporter eher gehen müssten. Zwei Dinge vor allem bewegten ihn:
Erstens gehe es um Nyawĩra, die Gesetzlose. Der Regierung sei klar, dass sie sich im Volk verberge, und er wolle alle daran erinnern, dass es jedermanns Pflicht sei, sie bei der nächsten Polizeiwache anzuzeigen. Wer der Flüchtigen Unterschlupf gewähre, sei ebenso des Hochverrats schuldig wie diese Kriminelle. Gleichzeitig aber wolle er darauf hinweisen, dass Nyawĩra nichts zustoßen werde, wenn sie sich den Behörden stellte, worum ihr Vater sie gebeten habe. Sie würde eine faire Verhandlung nach den Gesetzen des Landes bekommen. Dann lobte er eine Belohnung von fünfzigtausend Burĩ für denjenigen aus, dessen Hinweise zur Verhaftung und erfolgreichen Anklage besagter Nyawĩra wegen Verbrechen gegen den Staat führten.
Zweitens gehe es um Titus Tajirika. Nyawĩras Arbeitgeber befinde sich im Gewahrsam der Sicherheitskräfte und helfe ihnen bei der Suche nach den Ursachen des Schlangenwahns in Eldares. Er, der Minister, habe nicht gewusst, dass diese Frau hier vor ihnen Tajirikas Frau sei. Er würde veranlassen, dass Vinjinia und ihre Kinder zu Tajirika gebracht würden, damit sie mit eigenen Augen sehen könnten, dass er am Leben sei und es ihm gut gehe. Die Regierung schätze die Informationen, die Tajirika zu Nyawĩra und dem Schlangenwahn habe, doch könne er als Minister aus „Sicherheitsgründen“ keine weiteren Einzelheiten preisgeben.
Sikiokuu beendete seine Erklärung mit der Bitte, Mrs. Vinjinia Tajirika möge sich zu den anderen Ehrengästen, die auf die Aufführung der Tanzgruppe warteten, aufs Podium begeben. Er setzte sich wieder, winkte den offiziellen Polizeifotografen heran und sagte ihm, was er zu tun hatte.
Diese Erklärung überraschte alle. Vinjinia wusste nicht, was sie machen sollte; von einer solchen Entwicklung war im Schrein nicht die Rede gewesen. Sollte sie sich gleichgültig zeigen, wie es der Herr der Krähen geraten hatte? Sollte sie die Einladung ignorieren und einfach gehen? Wie aber konnte sie die Einladung eines Ministers ablehnen? Das könnte als Affront aufgefasst werden und den versprochenen Besuch bei ihrem Mann hinauszögern. So saß sie plötzlich neben den großen Ohren von Silver Sikiokuu auf dem Podium.
Die Tänzerinnen stimmten jetzt ein Lied an, das die Menschen im Land zu Frieden und Einheit aufrief.
Sikiokuu, man hat dir große Ohren gegeben,
damit du Dinge aus weiter
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