Herr der Krähen
‚wenn‘ sagen.“
„Nur ein einziges Wort?“
„Ja, das aber wiederholte Male.“
„Und wann überkommt dich diese schreckliche Plage? Wodurch wird sie ausgelöst? Bleiben die Worte nur dann stecken, wenn du an deinen Reichtum denkst?“
„Manchmal, aber manchmal auch dann, wenn ich an gar nichts Bestimmtes denke.“
„Und was willst du nun?“
„Zunächst brauche ich eine Medizin, die verhindert, dass mir die Worte im Hals stecken bleiben.“
„Wann hattest du den letzten Anfall?“
„Oh, heute Morgen. Ich wollte sagen, am späten Nachmittag. Deswegen bin ich im Dunkeln hergekommen. Ein Notfall sozusagen.“
„Aber jetzt ist die Krankheit wieder weg, sie hat nachgelassen.“
„Ja. Es kommt und geht. Immer völlig überraschend.“
„Und ist es schlimmer als sonst?“
Kaniũrũ versuchte sich zu erinnern, was Tajirika im Video gesagt hatte, aber ihm fielen nicht mehr alle Einzelheiten ein. Er musste improvisieren.
„Meistens passiert es abends zu Hause, nach der Arbeit im Büro. Und wenn ich in einen Spiegel sehe, wird es schlimmer.“
„Was siehst du im Spiegel.“
„Mein Gesicht.“
„Sicher?“
„Ja doch. Mein Gesicht. Ich kenn doch mein Gesicht.“
„Und das Spiegelbild bringt dich dazu, ‚wenn‘ zu sagen?“
„Genau.“
„Die Krankheit schlägt also nur dann zu, wenn du dich selbst im Spiegel siehst?“
„Ja, genau. Das stimmt. So ist es.“
„Auch im Büro? Ich meine, wenn du dich im Büro im Spiegel betrachtest?“
„Überall, das kann ich Ihnen sagen“, antwortete Kaniũrũ und ließ seiner Phantasie freien Lauf, um dem Herrn der Krähen ein Höchstmaß an Mitgefühl zu entlocken. „Es ist eine schreckliche Krankheit, Mr. Herr der Krähen. Wo immer ein Spiegel ist, lauert die Krankheit. Auf den Toiletten der großen Hotels und Nachtklubs. In Bussen und Taxis. Es ist, als würden meine Feinde mir die Krankheit immerzu aufs Neue auferlegen, wo ich auch bin. Mr. Herr der Krähen, ich habe sogar Angst, meine Wohnung zu verlassen.“
Auf einmal machte der Herr der Krähen etwas, worauf Kaniũrũ nicht vorbereitet war. Er drückte ihm einen Spiegel in die Hand.
„Hier! Nimm. Er sieht alles“, sprach der Herr der Krähen. „Sogar das, was am verborgensten ist.“
Kaniũrũs Hände zitterten, als er nach dem Spiegel griff. Unzählige Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Einen Moment dachte er daran, einen Anfall vorzutäuschen und zahllose „Wenns“ herauszusprudeln, doch bekam er es mit der Angst zu tun. Angenommen, der Spiegel kann wirklich meine Geheimnisse sehen? Nein, ich werde mich nicht in dem Spiegel betrachten, auf keinen Fall. Kaniũrũ tat nicht einmal so, als sähe er hinein.
„Ich will nicht behaupten, dass die Worte völlig stecken bleiben“, setzte er an und versuchte, sich aus dem Dilemma zu befreien, in das er sich gerade hineinmanövriert hatte. „Ich meine, es ist mehr eine Art Flüstern, ein Echo, kein klarer Laut. Das Wort flüstert sich sozusagen in mein Gehirn. Ach, Mr. Herr der Krähen, wenn es im Hirn wispert, ist das schlimmer, als würde man normale Geräusche hören, weil es den Gedankenfluss behindert. Ich brauche eine Schutzmedizin um meinen gesamten Besitz herum, sie wird meine Angst eindämmen, die ganz offensichtlich die Ursache dieses Wisperns ist. Ich brauche auch Schutz vor meinen Feinden, eine fortdauernde Heilmethode. Hier haben Sie den Spiegel zurück.“
Der Herr der Krähen nahm den Spiegel nicht. Er sah Kaniũrũ lange und fest an.
„Ist das alles, was du willst?“, fragte er Kaniũrũ.
„Ja.“
„Dann mach dir keine unnötigen Sorgen“, sprach der Herr der Krähen. „Du bist jung. Du kannst dein Leben noch retten. Es ist notwendig, dass du dich von den Dingen befreist, die dir diese Angst einflößen und einem neuen Selbst, einem anderen Selbst, im Weg stehen. Sie sind der Feind.“
„Vielen Dank, Mr. Herr der Krähen. Sie haben meine Gedanken vollkommen richtig gelesen. Mich von den Feinden befreien, die sich mir in den Weg stellen oder zumindest die Macht neutralisieren, die sie über mich haben. Ich glaube an Sie und Ihre Medizin.“
„Halt den Spiegel vor dich“, forderte der Herr der Krähen ihn auf. „Halt ihn fest. Jetzt sieh direkt hinein, ohne abzuschweifen. Konzentriere all deine Gedanken, deine Sehnsüchte, deine Bedürfnisse in deinem Blick. Wenn du lügst, belügst du dich selbst. Wenn du die Wahrheit sprichst, sagst du dir selbst die Wahrheit. Wenn du dich bereit fühlst, die Magie
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