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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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heilender und schützender Worte zu empfangen, lass es mich wissen.“
    „Ich bin bereit. Ich bin bereit für Schutz und Heilung“, sagte Kaniũrũ schnell, weil er fürchtete, der Herr der Krähen könnte seine Meinung ändern.
    „Siehst du auch direkt in den Spiegel?“
    „Ja, ja.“
    „Dann sprich mir nach: Nimm von mir den Feind des Lebens; die Tage der Diebe und Räuber sind gezählt.“
    „Nimm von mir den Feind des Lebens; die Tage der Diebe und Räuber sind gezählt.“
    „Ich möchte, dass du das sieben Mal aufsagst.“
    Kaniũrũ tat, wie ihm gesagt wurde, und sprach die magischen Worte sieben Mal. Seine Augen und ihr Spiegelbild schauten sich an, seine Lippen und ihr Spiegelbild ahmten einander sieben Mal nach.
    „Jetzt entferne all den Schmalz aus deinen Ohren und alles andere, das meine Worte abwehren könnte“, sprach der Herr der Krähen voller Autorität. „Hör zu! Stell dich jeden Morgen vor einen Spiegel, schau hinein und sprich sieben Mal die Formel. Mach das sieben Monate lang jeden Tag.“
    „Ist das alles?“, fragte Kaniũrũ.
    „Das ist alles“, antwortete der Herr der Krähen und nahm ihm den Spiegel ab.
    „Und das wird einen schützenden Zauber über mein Leben und meinen Besitz legen?“
    „Ja, wenn du es richtig machst.“
    „Was habe ich zu bezahlen?“
    „Nichts, denn ich habe dir weder Kräuter noch Pulver oder Flüssigkeiten gegeben. Du hast eine Krankheit des Reichtums und des Besitzes, und die Medizin dagegen sitzt im Herzen. Deine Seele und alles, was du besitzt, wird gesunden, wenn du dich mit den richtigen Worten gegen die Feinde deiner Seele wappnest.“
    „Mit Worten?“
    „Ja, mit Worten. Und Taten, die aus den richtigen Worten entspringen. Also achte genau darauf, was du von jetzt an sagst. Was einen Menschen vergiftet, geht durch seinen Mund. Und ich will nichts davon erfahren, dass du das, was du im Schrein des Herrn der Krähen gesehen oder gehört hast, anderen Ohren weitergibst. Hast du mich verstanden?“
    „Ja.“
    „Sprich mir nach: Und wenn ich ausspreche, was ich nicht sagen darf, mögen die Worte mich verraten.“
    „Und wenn ich ausspreche, was ich nicht sagen darf, mögen die Worte mich verraten.“

6
    Kaniũrũ spürte große Erleichterung. Jetzt war sein Reichtum geschützt. Sein Geld war außerhalb der Reichweite seiner Feinde, wer auch immer sie waren oder wo sie sich befanden. Er war so mit der Leichtigkeit seines Seins beschäftigt, dass er, als ihm die Frau, die ihn vorhin empfangen hatte, ein Stück Papier gab, es einfach nahm, in die Tasche steckte und ohne ein Dankeschön, einen Blick oder ein Wort davonging. Allein dem Herrn der Krähen gegenüber empfand er eine ungeheure Dankbarkeit. Der Mann ist ein wahrer Zauberer, sagte Kaniũrũ sich immer wieder und wunderte sich, wie viel der Hexendoktor über ihn und seinen Zustand wusste. Und dass er keine Bezahlung verlangt hatte, bewies seine Echtheit umso mehr. Die Scharlatane wollen immer nur nehmen, die Echten geben lieber. Nicht weniger erstaunlich war, wie der Herr der Krähen es geschafft hatte, seine Ängste zu beschwichtigen. Abgesehen von dem Augenblick, in dem er den Zauberer über seine Krankheit belogen hatte, war Kaniũrũ ganz im Reinen mit sich und hatte mit dem Zauberer gesprochen, als hätten sie sich schon einmal gesehen und würden ihre Bekanntschaft nur erneuern. Doch schob er die Möglichkeit einer früheren Begegnung schnell beiseite und schrieb die Leichtigkeit und Vertrautheit ihrer Unterhaltung den wahrsagerischen Fähigkeiten des Zauberers zu.
    Er schlief kaum in dieser Nacht. Sein ganzer Körper war angespannt vor Freude, Erleichterung, Hoffnung und Eigenlob über die gelungene Täuschung. Er hatte sogar den Herrn der Krähen übers Ohr gehauen, glaubte er.
    Doch das Gesicht des Herrn der Krähen erschien weiterhin vor seinem inneren Auge. Es tanzte durch sein Denken, als wollte es seine schlummernden künstlerischen Instinkte wecken. Schon in der Schule waren Porträts seine Stärke gewesen; sein Gedächtnis war ein Warenlager der unterschiedlichsten Gesichter, denen er je begegnet war. Mittlerweile machte er sich jedoch über die Kunst als Mittel zum Erreichen materiellen Wohlstands keine Illusionen mehr; sein Gedächtnis hatte an Klarheit und Schärfe eingebüßt.
    Nun drehte und wendete er das Gesicht des Herrn der Krähen in seiner schöpferischen Phantasie. Es gab Momente, in denen ihm das Gesicht erschien, wie es während der Weissagung gewesen war.

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